Vom Suchen und Finden der Bilder
Der Himmel über dem Regisseur. Der deutsche Autorenfilmer Wim Wenders wird 75. Sein Kino lebt von der Magie der Bilder – und den Figuren, die nach ihrer Bedeutung suchen.
EEigentlich sollte der Journalist Philip Winter einen Artikel über die amerikanische Landschaft schreiben, aber er bringt kein einziges Wort zu Papier. Seit Wochen schon reist er durch die USA: Jedes Motel sieht gleich aus, eine Kleinstadt wirkt wie die andere, das Fernsehen ist überall dasselbe. Er macht Polaroid-Bilder von seinen Stationen, aber die Bilder bleiben bedeutungslos. „Es ist doch nie das drauf, was man gesehen hat“, sinniert er.
„Alice in den Städten“, der mit Winters Reise beginnt, war im Jahr 1974 Wim Wenders vierter Film – und sein erster großer Erfolg. Schon die ersten Minuten fangen ein, worum es in so vielen seiner Geschichten geht: Es sind Filme über Reisende, die sich selbst suchen – und es sind Überlegungen zu den Bildern, denen sie und wir dabei begegnen. „Dir ist wirklich Hören und Sehen vergangen“, sagt eine Bekannte noch zu Winter. Aber dann wird der Journalist im Lauf der sich langsam entfaltenden Story zum Ersatzvater für ein kleines Mädchen, dem er helfen will, die irgendwo im Ruhrpott lebende Großmutter ausfindig zu machen. Unterwegs lernt er auch wieder das Hinsehen.
Die Protagonisten von Wenders Filmen brechen oft auf, um den Bildern wieder Bedeutung zu verleihen – zum Beispiel in seinem weltumspannenden Epos „Bis ans Ende der Welt“, in dem es um eine Technologie geht, mit der Blinde wieder sehen können. Klar, dass es bei diesen Fragen zur Natur der Bilder auch um das Kino als solches geht, um das Medium und seine Geschichte. Immer wieder lässt Wenders die Filmwelt eine Rolle spielen: Im Roadmovie „Im Lauf der Zeit“zieht ein Techniker durch Deutschland, um alte Kinoprojektoren zu reparieren. „Der Stand der Dinge“dreht sich um ein frustriertes Filmteam, das wegen Budgetproblemen nicht weiterdrehen kann, und „Am Ende der Gewalt“erzählt von einem Actionfilmproduzenten und einer Videoüberwachungstechnologie.
Der 1945 geborene Wilhelm Ernst Wenders wollte in seinen jungen Jahren Maler werden, was man seinen Kinokunstwerken auch ansieht, und eine Zeit lang auch Priester, was sich in der Sinnsuche seiner Figuren niedergeschlagen hat. Auch der Grund, warum er doch kein Geistlicher wurde, prägt seine Filme: Die Liebe zum Rock ’n’ Roll kam ihm dazwischen. Die Musik kommt in Wenders’ Filmen gleich nach den Bildern; er arbeitete mit CAN und Ry Cooder, durch die Filme laufen Lou Reed, Nick Cave und Campino, mit Bono arbeitete er an „Million Dollar Hotel“. Wenn in dem poetischen „Lisbon Story“Toningenieur Philip Winter (der Name taucht immer wieder auf, auch wenn es nie dieselbe Figur ist) für ein Filmprojekt die Stadt über ihre Geräusche erkundet, wird der portugiesische Dichter Fernando Pessoa zitiert: „Im hellen Tageslicht glänzen sogar die Töne“.
Wenders gehörte in den Siebzigern neben Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder zu den populärsten und prägendsten Regisseuren des Neuen Deutschen Films. Seine Bildsprache war amerikanischer als die seiner Kollegen, sein Geschmack in Sachen Popkultur auch – aber dennoch ging es um seine Heimat. In „Im Lauf der Zeit“reisen die Protagonisten entlang der deutschdeutschen Grenze, später fing „Der Himmel über Berlin“die geteilte Stadt kurz vor der Wende in bestechenden Schwarz-Weiß-Kompositionen ein. Wenders’ Erfahrungen in Amerika dagegen waren immer wieder ernüchternd, wie die vergebliche Motivsuche für „Der scharlachrote Buchstabe“oder seine erste US-Produktion „Hammett“, in die Produzent Francis Ford Coppola stark eingriff, aber es zog ihn doch immer wieder ins „Land of Plenty“– wie er 2004 einen Film über das Amerika nach 9/11 nannte.
Auch ein österreichischer Künstler spielt eine Schlüsselrolle in Wenders’ Werk: der Schriftsteller Peter Handke. Wenders freundete sich nach einer Aufführung von Handkes „Publikumsbeschimpfung“in Oberhausen mit ihm an, drehte 1969 den Kurzfilm „Drei amerikanische LPs“mit ihm und verfilmte 1971 Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.
Auch die Wenders-Filme „Falsche Bewegung“und „Der Himmel über Berlin“entstanden mit Handke, umgekehrt produzierte Wenders Handkes Regiearbeiten „Die linkshändige Frau“und „Die Abwesenheit“. 2016 setzte Wenders Handkes Stück „Die schönen Tage von Aranjuez“fürs Kino um.
„Mich interessieren die Vorgänge, die einfach ablaufen, passieren, und ich möchte da nicht hineinpfuschen, keine Dramaturgie, keine ,Handlung‘ im üblichen Sinn“, sagte Wenders einmal. Tatsächlich leben seine Filme von der Beobachtung und den Gesten – wichtig ist auch das, was nicht passiert oder nicht gesagt wird. In einer Szene aus „Im
Lauf der Zeit“, in der auch der Generationenkonflikt der Achtundsechziger anklingt, konfrontiert ein Mann seinen alten Vater, den er seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat. „Du sagst ja nichts seit über zwei Stunden“, meint der. „Hör mir trotzdem zu“, fordert der Sohn.
Es passt, dass der Beobachter Wenders auch immer wieder Dokumentarfilme drehte – berühmt zum Beispiel sein „Buena Vista Social Club“von 1999, der die alten kubanischen Musiker zu Weltstars machte. Auch über BAP-Sänger Wolfgang Niedecken („Viel passiert“), die Choreografin Pina Bausch („Pina“), den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado („Das Salz der Erde“) oder Papst Franziskus („Ein Mann seines Wortes“) drehte er Dokus, die auch immer Liebeserklärungen sind. „Das liegt daran, dass ich meine Filme grundsätzlich nur über Dinge und Personen mache, die ich mag“, erläuterte er zum FranziskusFilm.
Die Papst-Doku zeigt neben den Bildern und der Musik einen weiteren Themenstrang auf, der sich in den philosophischen Fragen seiner früheren Filme andeutete und heute mit schwierigen und auch spirituellen Themen beschäftigt. Da begegnet ein Fotograf dem Tod („Palermo Shooting“), da hadert ein Schriftsteller mit der Schuld, ein Kind überfahren zu haben („Every Thing Will Be Fine“), und ein Geheimagent gerät in die Gefangenschaft somalischer Dschihadisten („Grenzenlos“). Wenders’ aktuelle Filme sind fokussierter und strenger, aber sie sind eine logische Fortführung seiner vielen Interessen. „Die handwerkliche Virtuosität von ,Im Lauf der Zeit‘ wird die Cineasten süchtig machen“, schrieb Wolf Danner in den Siebzigern in der Wochenzeitung „Die Zeit“, und seine Worte sind auch über 40 Jahre später noch gültig. Am
14. August feiert Wim Wenders seinen 75. Geburtstag. Derzeit arbeitet er an zwei neuen Filmprojekten.