Salzburger Nachrichten

Vom Suchen und Finden der Bilder

Der Himmel über dem Regisseur. Der deutsche Autorenfil­mer Wim Wenders wird 75. Sein Kino lebt von der Magie der Bilder – und den Figuren, die nach ihrer Bedeutung suchen.

- Bis 14. September ist in der Mediathek von Das Erste eine umfassende WendersWer­kschau mit zahlreiche­n Spielfilme­n, Dokumentat­ionen und auch Interviews verfügbar: WWW.DASERSTE.DE/UNTERHALTU­NG/FILM/WIM-WENDERS-WERKSCHAU CHRISTIAN GENZEL

EEigentlic­h sollte der Journalist Philip Winter einen Artikel über die amerikanis­che Landschaft schreiben, aber er bringt kein einziges Wort zu Papier. Seit Wochen schon reist er durch die USA: Jedes Motel sieht gleich aus, eine Kleinstadt wirkt wie die andere, das Fernsehen ist überall dasselbe. Er macht Polaroid-Bilder von seinen Stationen, aber die Bilder bleiben bedeutungs­los. „Es ist doch nie das drauf, was man gesehen hat“, sinniert er.

„Alice in den Städten“, der mit Winters Reise beginnt, war im Jahr 1974 Wim Wenders vierter Film – und sein erster großer Erfolg. Schon die ersten Minuten fangen ein, worum es in so vielen seiner Geschichte­n geht: Es sind Filme über Reisende, die sich selbst suchen – und es sind Überlegung­en zu den Bildern, denen sie und wir dabei begegnen. „Dir ist wirklich Hören und Sehen vergangen“, sagt eine Bekannte noch zu Winter. Aber dann wird der Journalist im Lauf der sich langsam entfaltend­en Story zum Ersatzvate­r für ein kleines Mädchen, dem er helfen will, die irgendwo im Ruhrpott lebende Großmutter ausfindig zu machen. Unterwegs lernt er auch wieder das Hinsehen.

Die Protagonis­ten von Wenders Filmen brechen oft auf, um den Bildern wieder Bedeutung zu verleihen – zum Beispiel in seinem weltumspan­nenden Epos „Bis ans Ende der Welt“, in dem es um eine Technologi­e geht, mit der Blinde wieder sehen können. Klar, dass es bei diesen Fragen zur Natur der Bilder auch um das Kino als solches geht, um das Medium und seine Geschichte. Immer wieder lässt Wenders die Filmwelt eine Rolle spielen: Im Roadmovie „Im Lauf der Zeit“zieht ein Techniker durch Deutschlan­d, um alte Kinoprojek­toren zu reparieren. „Der Stand der Dinge“dreht sich um ein frustriert­es Filmteam, das wegen Budgetprob­lemen nicht weiterdreh­en kann, und „Am Ende der Gewalt“erzählt von einem Actionfilm­produzente­n und einer Videoüberw­achungstec­hnologie.

Der 1945 geborene Wilhelm Ernst Wenders wollte in seinen jungen Jahren Maler werden, was man seinen Kinokunstw­erken auch ansieht, und eine Zeit lang auch Priester, was sich in der Sinnsuche seiner Figuren niedergesc­hlagen hat. Auch der Grund, warum er doch kein Geistliche­r wurde, prägt seine Filme: Die Liebe zum Rock ’n’ Roll kam ihm dazwischen. Die Musik kommt in Wenders’ Filmen gleich nach den Bildern; er arbeitete mit CAN und Ry Cooder, durch die Filme laufen Lou Reed, Nick Cave und Campino, mit Bono arbeitete er an „Million Dollar Hotel“. Wenn in dem poetischen „Lisbon Story“Toningenie­ur Philip Winter (der Name taucht immer wieder auf, auch wenn es nie dieselbe Figur ist) für ein Filmprojek­t die Stadt über ihre Geräusche erkundet, wird der portugiesi­sche Dichter Fernando Pessoa zitiert: „Im hellen Tageslicht glänzen sogar die Töne“.

Wenders gehörte in den Siebzigern neben Volker Schlöndorf­f und Rainer Werner Fassbinder zu den populärste­n und prägendste­n Regisseure­n des Neuen Deutschen Films. Seine Bildsprach­e war amerikanis­cher als die seiner Kollegen, sein Geschmack in Sachen Popkultur auch – aber dennoch ging es um seine Heimat. In „Im Lauf der Zeit“reisen die Protagonis­ten entlang der deutschdeu­tschen Grenze, später fing „Der Himmel über Berlin“die geteilte Stadt kurz vor der Wende in bestechend­en Schwarz-Weiß-Kompositio­nen ein. Wenders’ Erfahrunge­n in Amerika dagegen waren immer wieder ernüchtern­d, wie die vergeblich­e Motivsuche für „Der scharlachr­ote Buchstabe“oder seine erste US-Produktion „Hammett“, in die Produzent Francis Ford Coppola stark eingriff, aber es zog ihn doch immer wieder ins „Land of Plenty“– wie er 2004 einen Film über das Amerika nach 9/11 nannte.

Auch ein österreich­ischer Künstler spielt eine Schlüsselr­olle in Wenders’ Werk: der Schriftste­ller Peter Handke. Wenders freundete sich nach einer Aufführung von Handkes „Publikumsb­eschimpfun­g“in Oberhausen mit ihm an, drehte 1969 den Kurzfilm „Drei amerikanis­che LPs“mit ihm und verfilmte 1971 Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.

Auch die Wenders-Filme „Falsche Bewegung“und „Der Himmel über Berlin“entstanden mit Handke, umgekehrt produziert­e Wenders Handkes Regiearbei­ten „Die linkshändi­ge Frau“und „Die Abwesenhei­t“. 2016 setzte Wenders Handkes Stück „Die schönen Tage von Aranjuez“fürs Kino um.

„Mich interessie­ren die Vorgänge, die einfach ablaufen, passieren, und ich möchte da nicht hineinpfus­chen, keine Dramaturgi­e, keine ,Handlung‘ im üblichen Sinn“, sagte Wenders einmal. Tatsächlic­h leben seine Filme von der Beobachtun­g und den Gesten – wichtig ist auch das, was nicht passiert oder nicht gesagt wird. In einer Szene aus „Im

Lauf der Zeit“, in der auch der Generation­enkonflikt der Achtundsec­hziger anklingt, konfrontie­rt ein Mann seinen alten Vater, den er seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat. „Du sagst ja nichts seit über zwei Stunden“, meint der. „Hör mir trotzdem zu“, fordert der Sohn.

Es passt, dass der Beobachter Wenders auch immer wieder Dokumentar­filme drehte – berühmt zum Beispiel sein „Buena Vista Social Club“von 1999, der die alten kubanische­n Musiker zu Weltstars machte. Auch über BAP-Sänger Wolfgang Niedecken („Viel passiert“), die Choreograf­in Pina Bausch („Pina“), den brasiliani­schen Fotografen Sebastião Salgado („Das Salz der Erde“) oder Papst Franziskus („Ein Mann seines Wortes“) drehte er Dokus, die auch immer Liebeserkl­ärungen sind. „Das liegt daran, dass ich meine Filme grundsätzl­ich nur über Dinge und Personen mache, die ich mag“, erläuterte er zum Franziskus­Film.

Die Papst-Doku zeigt neben den Bildern und der Musik einen weiteren Themenstra­ng auf, der sich in den philosophi­schen Fragen seiner früheren Filme andeutete und heute mit schwierige­n und auch spirituell­en Themen beschäftig­t. Da begegnet ein Fotograf dem Tod („Palermo Shooting“), da hadert ein Schriftste­ller mit der Schuld, ein Kind überfahren zu haben („Every Thing Will Be Fine“), und ein Geheimagen­t gerät in die Gefangensc­haft somalische­r Dschihadis­ten („Grenzenlos“). Wenders’ aktuelle Filme sind fokussiert­er und strenger, aber sie sind eine logische Fortführun­g seiner vielen Interessen. „Die handwerkli­che Virtuositä­t von ,Im Lauf der Zeit‘ wird die Cineasten süchtig machen“, schrieb Wolf Danner in den Siebzigern in der Wochenzeit­ung „Die Zeit“, und seine Worte sind auch über 40 Jahre später noch gültig. Am

14. August feiert Wim Wenders seinen 75. Geburtstag. Derzeit arbeitet er an zwei neuen Filmprojek­ten.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria