Als der Kalte Krieg den Sport erfasste
Die Boykottspiele 1980. Derzeit werden Sportler in Fragen des Rassismus politisch aktiv – vor vier Jahrzehnten lief das genau andersherum.
AAn die Tage vor dem Abflug nach Moskau zu den Olympischen Sommerspielen 1980 kann sich Elisabeth „Sissy“Max-Theurer noch gut erinnern. „Moskau, das klang damals so wie der Inbegriff des Bösen. So ist es zumindest bei uns in den Medien immer dargestellt worden. Aber die Überraschung dort war groß: Ich habe irrsinnig freundliche Leute getroffen und es war eine herzliche Atmosphäre vorhanden. Ich komme heute noch gern nach Moskau.“
Und das hat nicht nur mit der Glanzstunde ihrer Karriere zu tun: Die damals erst 23-jährige Dressurreiterin holte in Moskau Olympiagold – ein Ereignis, das sie aus mannigfachen Gründen ihr ganzes Leben verfolgen sollte. Als Theurer (damals noch ohne den Doppelnamen ihres Trainers und späteren Ehemannes Hans Max) die Goldmedaille in der Dressur gewann, erhielt sie vom Silbermedaillengewinner noch auf dem Siegerpodest eine rote Rose als Zeichen der Anerkennung überreicht – denn Theurer war eine der ganz wenigen westlichen Reiterinnen, die sich den Boykottaufrufen der USA gegen die Spiele widersetzt hatten. Und so wurde die gebürtige Linzerin zu einer Symbolfigur wider Willen in der Frage, ob und wie sehr eigentlich der Sport politisch ist. „Ich habe es damals gesagt und ich sage es heute noch: Die Politik schmückt sich zwar gern mit den Leistungen des Sports, aber sie hat im Sport nichts verloren. Es gibt genug andere Dinge, um die sich die Politik kümmern sollte, der Sport gehört sicher nicht dazu.“
Rückblickend war es ein Jahrzehnt, in dem die Politik den Sport regelrecht überrollen und die Athleten zum Spielball eigener Interessen machen sollte. Es begann bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal, die von den meisten afrikanischen Verbänden aus Protest gegen die bestehende Apartheidspolitik in Südafrika boykottiert wurden. Zwar waren die Südafrikaner selbst ausgeschlossen, doch im Vorfeld machte eine Rugbyserie zwischen Südafrika und Neuseeland böses Blut.
Zwei Jahre später ermittelte die Fußballwelt ihren Titelträger in Argentinien, das seit 1976 unter einer blutigen Militärdiktatur
stand. Aber die deutschen Fußballfunktionäre sahen nichts Politisches oder Negatives darin. Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger untersagte seinen Spielern sogar politische Statements und Manfred Kaltz meinte: „Ich fahre dorthin, um Fußball zu spielen. Belasten tut es mich nicht, dass dort gefoltert wird.“
Doch so unpolitisch der deutsche Sport 1978 war, so politisch war er zwei Jahre später. Zu den Boykottspielen 1980 in Moskau kam es nach dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan im Dezember 1979. US-Präsident Jimmy Carter forderte danach, dass Moskau die Sommerspiele entzogen werden sollten. Das war aus verständlichen Gründen für das IOC undenkbar. Jetzt blieb nur die Boykottdrohung – doch der Zeitpunkt ist entlarvend. Denn noch im Februar 1980 fanden die Olympischen Winterspiele in Lake Placid im US-Bundesstaat New York statt, die wollte man durch voreilige Boykottdrohungen nicht gefährden. Erst am
12. April 1980 sprach sich das Olympische Komitee der USA in einer Abstimmung knapp für den Boykott aus. Die meisten westlichen Länder stellten es ihren Olympischen Komitees frei, dem Aufruf zu folgen oder nicht. Die BRD schloss sich dem Boykott trotz vehementer Proteste ihrer Sportler an.
Großbritannien etwa überließ die Entscheidung den einzelnen Sportlern – und die entschlossen sich in großer Mehrheit teilzunehmen. Das brachte ein nachträglich bis heute sporthistorisches Ereignis: Der damals 28-jährige Schotte Allan Wells gewann den 100-Meter-Sprint der Männer – er ist nach wie vor der letzte weißhäutige Sprinter, dem dies gelungen ist. Dabei gab es viel Druck auf ihn, auf ein Antreten zu verzichten. „Wir erhielten sechs Schreiben von der britischen Regierung, in denen uns Gründe aufgezählt wurden, warum wir nicht antreten sollten. Dem letzten Schreiben lag ein Bild eines kleinen getöteten Mädchens bei, neben ihm seine Puppe. Das war der Moment, in dem ich entschied: Ich fahre dorthin. Denn es wird keinen russischen Soldaten geben, der in Afghanistan sagt: Hey, hört, Allan Wells kommt nicht nach Moskau, hört mit dem Schießen auf.“
Stattdessen wurde eine ganze Generation an Sportlern um ihre Olympiachance gebracht. „Das ist bis heute etwas, das mich extrem ärgert“, sagt Max-Theurer. „Als Sportler hast du ein Ziel: Olympische Spiele. Ich war immer ehrgeizig und da war es unvorstellbar, dass einer sagt: Du darfst dort nicht hinfahren.“Dass dies ein US-Präsident vorangetrieben habe, kommentiert Max-Theurer mit Ironie. „Viel Glück mit ihren Präsidenten hatten die USA nie.“
Die lange Liste der Verlierer führte just der Amerikaner Renaldo Nehemiah an. Er war der mit Abstand beste Hürdensprinter seiner Zeit, unterbot im Vorfeld zwei Mal den Weltrekord und war der erste Mensch, der die 110 Meter Hürden in unter 13 Sekunden lief – seit damals wurde die Bestmarke nur mehr drei Zehntel nach unten geschraubt. „Es lässt sich nicht beschreiben, wie weh es tat, tatenlos daheim vor dem TV-Apparat zu sitzen. Die Politik hat meinen Lebenstraum zerstört.“Doch jene Politik hatte keinen Erfolg: Zwar schlossen sich 42 Nationen dem Boykott an, die meisten aber nicht aus dem Westen, sondern aus islamischen Ländern. Und während etwa die deutschen Sportler daheimbleiben mussten, reiste Bundeskanzler Helmut Schmidt unmittelbar vor den Spielen mit einer Wirtschaftsdelegation nach Moskau.
Das Spiel sollte sich vier Jahre später wiederholen: Die Staaten des Warschauer Paktes boykottierten die Spiele von Los Angeles 1984. Die gingen im Unterschied zu den Spielen von Moskau aber nicht als Boykottspiele in die Geschichte ein. „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“, sagt Max-Theurer mit vier Jahrzehnten Abstand. Moskau war jedoch das Zeitfenster, das sie selbst nutzen musste. Ihr zu dem Zeitpunkt brillanter Schimmel Mon Cherie, mit dem sie schon 1979 den Dressur-EMTitel geholt hatte, war bereits an Schimmelkrebs erkrankt. „Es war ein reinrassiger Schimmel und die sind für so etwas anfällig. Auch sein Vater hatte das schon, aber Mon Cherie traf es am Kehlkopf und so konnte er den Kopf auch nicht mehr aufrecht halten.“Fünf Jahre später verstarb das Ausnahmepferd, das Max-Theurer einst als Zugabe zu einem anderen Kauf geschenkt bekommen hatte, an der Krankheit.
Max-Theurer sitzt auch heute noch im Sattel, „aber nicht mehr so geschmeidig und mit dem Muskelkater als Gegner“. Ihre Tochter Victoria hat die Sommerspiele 2021 in Tokio als Ziel.