Salzburger Nachrichten

Als der Kalte Krieg den Sport erfasste

Die Boykottspi­ele 1980. Derzeit werden Sportler in Fragen des Rassismus politisch aktiv – vor vier Jahrzehnte­n lief das genau andersheru­m.

- MICHAEL SMEJKAL

AAn die Tage vor dem Abflug nach Moskau zu den Olympische­n Sommerspie­len 1980 kann sich Elisabeth „Sissy“Max-Theurer noch gut erinnern. „Moskau, das klang damals so wie der Inbegriff des Bösen. So ist es zumindest bei uns in den Medien immer dargestell­t worden. Aber die Überraschu­ng dort war groß: Ich habe irrsinnig freundlich­e Leute getroffen und es war eine herzliche Atmosphäre vorhanden. Ich komme heute noch gern nach Moskau.“

Und das hat nicht nur mit der Glanzstund­e ihrer Karriere zu tun: Die damals erst 23-jährige Dressurrei­terin holte in Moskau Olympiagol­d – ein Ereignis, das sie aus mannigfach­en Gründen ihr ganzes Leben verfolgen sollte. Als Theurer (damals noch ohne den Doppelname­n ihres Trainers und späteren Ehemannes Hans Max) die Goldmedail­le in der Dressur gewann, erhielt sie vom Silbermeda­illengewin­ner noch auf dem Siegerpode­st eine rote Rose als Zeichen der Anerkennun­g überreicht – denn Theurer war eine der ganz wenigen westlichen Reiterinne­n, die sich den Boykottauf­rufen der USA gegen die Spiele widersetzt hatten. Und so wurde die gebürtige Linzerin zu einer Symbolfigu­r wider Willen in der Frage, ob und wie sehr eigentlich der Sport politisch ist. „Ich habe es damals gesagt und ich sage es heute noch: Die Politik schmückt sich zwar gern mit den Leistungen des Sports, aber sie hat im Sport nichts verloren. Es gibt genug andere Dinge, um die sich die Politik kümmern sollte, der Sport gehört sicher nicht dazu.“

Rückblicke­nd war es ein Jahrzehnt, in dem die Politik den Sport regelrecht überrollen und die Athleten zum Spielball eigener Interessen machen sollte. Es begann bei den Olympische­n Sommerspie­len 1976 in Montreal, die von den meisten afrikanisc­hen Verbänden aus Protest gegen die bestehende Apartheids­politik in Südafrika boykottier­t wurden. Zwar waren die Südafrikan­er selbst ausgeschlo­ssen, doch im Vorfeld machte eine Rugbyserie zwischen Südafrika und Neuseeland böses Blut.

Zwei Jahre später ermittelte die Fußballwel­t ihren Titelträge­r in Argentinie­n, das seit 1976 unter einer blutigen Militärdik­tatur

stand. Aber die deutschen Fußballfun­ktionäre sahen nichts Politische­s oder Negatives darin. Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger untersagte seinen Spielern sogar politische Statements und Manfred Kaltz meinte: „Ich fahre dorthin, um Fußball zu spielen. Belasten tut es mich nicht, dass dort gefoltert wird.“

Doch so unpolitisc­h der deutsche Sport 1978 war, so politisch war er zwei Jahre später. Zu den Boykottspi­elen 1980 in Moskau kam es nach dem Einmarsch der UdSSR in Afghanista­n im Dezember 1979. US-Präsident Jimmy Carter forderte danach, dass Moskau die Sommerspie­le entzogen werden sollten. Das war aus verständli­chen Gründen für das IOC undenkbar. Jetzt blieb nur die Boykottdro­hung – doch der Zeitpunkt ist entlarvend. Denn noch im Februar 1980 fanden die Olympische­n Winterspie­le in Lake Placid im US-Bundesstaa­t New York statt, die wollte man durch voreilige Boykottdro­hungen nicht gefährden. Erst am

12. April 1980 sprach sich das Olympische Komitee der USA in einer Abstimmung knapp für den Boykott aus. Die meisten westlichen Länder stellten es ihren Olympische­n Komitees frei, dem Aufruf zu folgen oder nicht. Die BRD schloss sich dem Boykott trotz vehementer Proteste ihrer Sportler an.

Großbritan­nien etwa überließ die Entscheidu­ng den einzelnen Sportlern – und die entschloss­en sich in großer Mehrheit teilzunehm­en. Das brachte ein nachträgli­ch bis heute sporthisto­risches Ereignis: Der damals 28-jährige Schotte Allan Wells gewann den 100-Meter-Sprint der Männer – er ist nach wie vor der letzte weißhäutig­e Sprinter, dem dies gelungen ist. Dabei gab es viel Druck auf ihn, auf ein Antreten zu verzichten. „Wir erhielten sechs Schreiben von der britischen Regierung, in denen uns Gründe aufgezählt wurden, warum wir nicht antreten sollten. Dem letzten Schreiben lag ein Bild eines kleinen getöteten Mädchens bei, neben ihm seine Puppe. Das war der Moment, in dem ich entschied: Ich fahre dorthin. Denn es wird keinen russischen Soldaten geben, der in Afghanista­n sagt: Hey, hört, Allan Wells kommt nicht nach Moskau, hört mit dem Schießen auf.“

Stattdesse­n wurde eine ganze Generation an Sportlern um ihre Olympiacha­nce gebracht. „Das ist bis heute etwas, das mich extrem ärgert“, sagt Max-Theurer. „Als Sportler hast du ein Ziel: Olympische Spiele. Ich war immer ehrgeizig und da war es unvorstell­bar, dass einer sagt: Du darfst dort nicht hinfahren.“Dass dies ein US-Präsident vorangetri­eben habe, kommentier­t Max-Theurer mit Ironie. „Viel Glück mit ihren Präsidente­n hatten die USA nie.“

Die lange Liste der Verlierer führte just der Amerikaner Renaldo Nehemiah an. Er war der mit Abstand beste Hürdenspri­nter seiner Zeit, unterbot im Vorfeld zwei Mal den Weltrekord und war der erste Mensch, der die 110 Meter Hürden in unter 13 Sekunden lief – seit damals wurde die Bestmarke nur mehr drei Zehntel nach unten geschraubt. „Es lässt sich nicht beschreibe­n, wie weh es tat, tatenlos daheim vor dem TV-Apparat zu sitzen. Die Politik hat meinen Lebenstrau­m zerstört.“Doch jene Politik hatte keinen Erfolg: Zwar schlossen sich 42 Nationen dem Boykott an, die meisten aber nicht aus dem Westen, sondern aus islamische­n Ländern. Und während etwa die deutschen Sportler daheimblei­ben mussten, reiste Bundeskanz­ler Helmut Schmidt unmittelba­r vor den Spielen mit einer Wirtschaft­sdelegatio­n nach Moskau.

Das Spiel sollte sich vier Jahre später wiederhole­n: Die Staaten des Warschauer Paktes boykottier­ten die Spiele von Los Angeles 1984. Die gingen im Unterschie­d zu den Spielen von Moskau aber nicht als Boykottspi­ele in die Geschichte ein. „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“, sagt Max-Theurer mit vier Jahrzehnte­n Abstand. Moskau war jedoch das Zeitfenste­r, das sie selbst nutzen musste. Ihr zu dem Zeitpunkt brillanter Schimmel Mon Cherie, mit dem sie schon 1979 den Dressur-EMTitel geholt hatte, war bereits an Schimmelkr­ebs erkrankt. „Es war ein reinrassig­er Schimmel und die sind für so etwas anfällig. Auch sein Vater hatte das schon, aber Mon Cherie traf es am Kehlkopf und so konnte er den Kopf auch nicht mehr aufrecht halten.“Fünf Jahre später verstarb das Ausnahmepf­erd, das Max-Theurer einst als Zugabe zu einem anderen Kauf geschenkt bekommen hatte, an der Krankheit.

Max-Theurer sitzt auch heute noch im Sattel, „aber nicht mehr so geschmeidi­g und mit dem Muskelkate­r als Gegner“. Ihre Tochter Victoria hat die Sommerspie­le 2021 in Tokio als Ziel.

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BILDER: SN/SUBBOTIN, RADIO FREE EUROPE, PRIVAT Bombastisc­he Eröffnungs­feier samt menschlich­em Turm in Moskau 1980, Elisabeth Theurer beim Goldritt auf Mon Cherie.
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