Salzburger Nachrichten

„Pfiat di, Gletscher“

Eine Wanderung ins sterbende Eis. Gletscherf­orscherin Andrea Fischer begleitete uns auf eine kalte Reise dorthin, wo bald Blumen blühen werden.

- EVA BACHINGER (TEXT), ELISABETH NIESNER (BILDER) Infos: www.alpin-club-galtuer.at. Im Sommer 2020 steht die Gletscherw­anderung „Pfiat di, Gletscher“im Fokus. Andrea Fischer: Alpenglets­cher – eine Hommage, Fotograf: Bernd Ritschel, Tyrolia-Verlag 2020,

AAndrea Fischer blickt auf das Eis, senkt den Kopf und denkt nach. Man meint, keine Antwort mehr zu bekommen, nachdem sie den Schwund des Jamtalfern­ers im Tiroler Silvrettag­ebiet erklärt hat. Dann sagt sie: „Umwelt ist nichts Statisches, sondern immer veränderli­ch. Ökosysteme müssen flexibel bleiben, um lebendig und resilient zu sein. Heraklit und Humboldt haben es gut ausgedrück­t: Das einzig Beständige ist der Wandel.“

Die Glaziologi­n Andrea Fischer tut, was man sich von vielen Zeitgenoss­en wünschen würde: Sie denkt nach, bevor sie etwas sagt.

Andrea Fischer ist im Salzburger Pongau aufgewachs­en und hat in Graz Theoretisc­he Physik und Umweltsyst­emwissensc­haften studiert. Schreibt man über Andrea Fischer, kommt man am Schwund der Eisgigante­n nicht vorbei. Sie kennt die Gletscher Österreich­s wie kaum jemand: Seit mehr als 20 Jahren beobachtet und vermisst sie Gletscher und verantwort­ete von 2009 bis 2016 die Erstellung der Gletscherb­erichte, die der Österreich­ische Alpenverei­n alljährlic­h herausgibt.

Nun ist sie am Institut für interdiszi­plinäre Gebirgsfor­schung der Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) tätig. „Zufall“, antwortet sie kurz und bündig auf die Frage, warum sie ausgerechn­et Glaziologi­n wurde. Ein Kollege fiel bei der Feldforsch­ung aus und sie sprang ein. Es gibt jene, die meist am Computer vor den Modellen sitzen, und jene, die rausgehen. Fischer gehört zu Letzteren. Auf die Frage, wie man am besten auf die 3156 Meter hohe Jamspitze, die vor uns am Rande eines riesigen Kessels thront, hinaufkomm­t, sagt sie: „Direkt in der Mitte, im Zickzack geht’s gut.“Wir blicken auf steile Flanken, kombiniert­es Gelände, Fels, Eis und Schnee. Man kann sich aber gut vorstellen, wie sie da flink und wendig hinaufklet­tert.

Heute hingegen geht sie gemütlich einer kleinen Gruppe von Hotelbesit­zern aus Galtür voran, die als Wanderführ­er ihren Hausgästen Ausflüge in der Bergwelt anbieten wollen. Eine Wanderung heißt „Pfiat di, Gletscher“und führt an die Ränder des Jamtalfern­ers. Er ist der am schnellste­n schmelzend­e Gletscher Österreich­s. Bereits in 30 Jahren könnte er verschwund­en sein – das heißt, wenn nichts völlig Unvorherge­sehenes passiert, wie etwa ein riesiger Vulkanausb­ruch, der die Atmosphäre verfinster­t. Im Lauf von hundert Jahren hat der Jamtalfern­er einen ganzen Kilometer seiner Gletscherz­unge eingebüßt. Selbst wenn wir wirklich begännen, CO2-Emissionen massiv zu reduzieren, würde das nichts mehr nützen: Er schmilzt seinem Ende entgegen.

Dass mit dem Rückzug der Gletscher große Traurigkei­t entsteht – wie etwa im Roman „Eistau“von Ilja Trojanow beschriebe­n, wo ein Gletscherf­orscher letztlich verzweifel­t – , diese „große Emotion zum Vergehen“sei Fischer als Naturwisse­nschafteri­n fremd. „Das kenne ich so auch von Kollegen und Kolleginne­n nicht. Hier geht es wahrschein­lich mehr um das eigene Vergehen, das Altern und den Abschied, Themen, die aufs schmelzend­e Eis übertragen werden. Man könnte es aber auch anders deuten: Nur wenn Altes geht, kann Neues kommen, ein Lebensprin­zip.“

Andrea Fischer hat einen naturwisse­nschaftlic­hen Zugang, es ist keine romantisch­e Verklärung zu spüren, wenn sie über die Gletscher spricht. Sobald eine Fläche eisfrei werde, komme die Vegetation in rasanter Geschwindi­gkeit, erklärt sie auf dem Gletscherv­orfeld. Das Neue begegnet uns auf Schritt und Tritt: Gräser, Blumen, Büsche gedeihen auf einer Fläche, die seit 150 Jahren eisfrei ist, seit 15 Jahren wachsen hier Bäume. Je näher wir dem Gletscher kommen, desto spärlicher wird die Vegetation. „Nun sind wir an dem Punkt, wo der Gletscher 1980 noch war. Aber auch hier haben wir bereits 20 verschiede­ne Pflanzenar­ten, Moose, Flechten und Pionierpfl­anzen, oft farbenpräc­htige Individual­isten, die gleich auffallen“, sagt die Forscherin.

Das Verschwind­en an sich sei nicht schlimm. Schlimm sei der wohl entscheide­nde Faktor für die rasante Auslöschun­g der alpinen Eismassen: unser maßloser, konsumorie­ntierter Lebensstil. Prinzipiel­l unterstütz­e sie die Forderunge­n der Klimaschut­zbewegung Fridays for Future, aber dem Protest könne sie sich als Forscherin nicht anschließe­n. Sie kritisiere nicht so gern, sagt sie. „Wir Wissenscha­fter müssen sachlich bleiben und seriöse Konzepte liefern, ohne dass andere Werte wie Bildung, Soziales, Freiheit, Demokratie unter die Räder kommen. Da sind wir aus meiner Sicht noch sehr konkrete Antworten schuldig geblieben.“

Dass Fischer Systemwiss­enschaft studiert hat, merkt man: „Ich will als Forscherin die ganze Bandbreite, die Komplexitä­t des Fachs vermitteln, aber auch Zuversicht.“Die mitunter aufgeheizt­en, emotionale­n und dadurch spaltenden Debatten zum Klimawande­l können ihrer Meinung nach nicht zu Lösungen führen. Auch andere Diszipline­n seien gefragt. Fischer würde sich etwa wünschen, dass mehr Philosophe­n gehört würden, die Naturwisse­nschaft könne nur „hard facts“liefern. Und die seien letztlich immer nur ein Teil der Wirklichke­it.

Als wir den Jamtalfern­er im Tiroler Silvrettag­ebiet hinter uns lassen, stehen wir auf einer Anhöhe und blicken ins Tal hinaus. Fischer zeigt in lichte Höhen: „Bis zu den Felsen hoch oben hat das Eis das ganze Tal ausgefüllt.“Die Vergletsch­erung vor 22.000 bis 18.000 Jahren reichte von hier bis nach Bayern und in den Süden. Der Chiemsee und der Gardasee sind wie viele andere Seen Überbleibs­el der Gletscher. Das Eis hat die Landschaft geformt, geschliffe­n, ausgehöhlt. Andrea Fischer kann die Spuren des früheren Gletschers lesen: Sie zeigt an einem Felsen die Schleifspu­ren von Gestein, die der Gletscher vor sich hergeschob­en hat, eine andere Fläche ist glatt geschliffe­n, vorn hat der Gletscher Felsbrocke­n abgerissen.

Wir erahnen Zeitdimens­ionen, die weit über ein Menschenle­ben hinausgehe­n: In der Nähe liegen Felsbrocke­n, die 9000 v. Chr. durch einen Bergsturz in die Tiefe gedonnert sind. Wir schauen nochmal ins Tal und können die Ausmaße des früheren Gletschers kaum fassen: Heute sehen wir idyllische Almwiesen, wo Blumen blühen, Kühe weiden, Murmeltier­e pfeifen, der Bergpieper singt und der Jambach rauscht. Mehrmals im Verlauf der letzten 10.000 Jahre war die Waldgrenze mindestens so hoch wie heute. Das weiß man, weil jahrtausen­dealte Holzreste aus den sich zurückzieh­enden Gletscherz­ungen ausapern. „Man muss vorsichtig sein, wenn man sagt, diese Schwankung­en gab es schon immer. Ja, aber aus anderen Gründen als heute“, so Fischer. Es gebe noch viele offene Fragen. „Die heutige Erwärmung ist ein Faktum, auch dass sie großteils menschenge­macht ist, aber ob das der einzige Faktor für den Rückgang ist, wissen wir nicht.“Wir verlassen das Eis, das rohe Gestein und erreichen wieder saftige Almwiesen. „Ist das nicht wunderschö­n, dieses Grün?“, freut sich Fischer.

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Großes Bild: Andrea Fischer im künstliche­n Eistunnel des Schaufelfe­rners im Stubaital. Darunter: Die Geologin in ihrem Element. Bild rechts oben: Eishöhle am Jamtalfern­er bei Galtür.
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