In Beirut entlädt sich die Wut
Die libanesischen Demonstranten sehen sich im Krieg mit ihrer Regierung. Die Aussicht auf Neuwahlen besänftigt sie nicht.
In der libanesischen Hauptstadt Beirut sind am Wochenende fast alle Dämme gebrochen. Ohnmächtig vor Wut auf ihre von einer korrupten Politikerklasse gestützte Regierung gingen Zehntausende Libanesen auf die Straße. Die Slogans und Aussagen der Menschen schockierten. Sie sind aber verständlich, wenn man sich die Monstrosität des den Herrschenden zur Last gelegten Verbrechens im Beiruter Hafen mit fast 200 Toten und über 300.000 Obdachlosen vor Augen führt.
„Meine Regierung hat mein Volk ermordet“, stand auf den Spruchbändern. „Rache, Rache, bis dieses
Regime ein Ende findet und die Verantwortlichen hängen“, skandierten die Demonstranten. Sie sehen sich inzwischen „im Krieg mit unserer Regierung“. „Das ist die Rückkehr der Revolution“, hallte es durch die mit Scherben übersäten Straßen am Beiruter Märtyrerplatz: „Entweder wir oder sie.“
Entsprechend entschlossen wurde in der Nacht zum Sonntag zur Sache gegangen. Unterstützt von offenbar „kampferprobten“jungen Libanesen stürmte eine Gruppe von pensionierten Soldaten und Offizieren das Beiruter Außenministerium. Aktenschränke wurden verwüstet, die Porträts von Staatspräsident Michel Aoun und anderen nationalen Würdenträgern in Brand gesetzt. „Wir haben das Gebäude als Sitz unserer Revolution beschlagnahmt“, verkündete ein Sprecher der Demonstranten. Sie brachen in Jubel aus, als an der Fassade ein Transparent mit der Aufschrift „Beirut – Die Hauptstadt der Revolution“ausgerollt wurde.
Auch das Energieministerium und der Sitz der Bankenvereinigung wurden gestürmt. Unter einem Hagel von Gummigeschossen und Tränengasgranaten „verteidigt“werden konnten dagegen das Parlament sowie der Amtssitz von Premierminister Hassan Diab. Der weiß sich angesichts des wachsenden Drucks der Straße nicht anders zu helfen, als Neuwahlen in zwei Monaten vorzuschlagen – was von der Protestbewegung umgehend zurückgewiesen wurde.
Denn die Wahlen, das ist sicher, würden erneut vom „System“, das seine entlang konfessioneller Linien abgestützte Herrschaft über Jahrzehnte fest zementiert hat, gewonnen werden. Für die in kleinen Graswurzelbewegungen organisierten Demonstranten käme ein Urnengang dagegen zu früh. Sie wollen nach der Explosionskatastrophe vom vergangenen Dienstag radikale Veränderungen.
Die Bruchlinien seien im Beiruter Hafen gezogen worden, sagte Medea Azoury, eine 46-jährige Demonstrantin, vor Journalisten. „Genug ist genug“, rief die Frau verzweifelt: „Wir werden in diesem Land als Geiseln gehalten. Wir können kein Geld mehr von den Banken abheben und die Menschen sterben vor Hunger.“
Die Ungeduld der Menschen ist begreiflich. Vor einem radikalen Wandel muss zunächst die Bewältigung der schweren humanitären Krise im Vordergrund stehen. Fast die Hälfte des Beiruter Stadtgebiets wurde durch die Detonation von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat verwüstet, die Getreidespeicher im
Beiruter Hafen zerstört. Für mehr als die Hälfte der zweieinhalb Millionen Einwohner der libanesischen Hauptstadt geht es inzwischen ums nackte Überleben.
Darüber waren sich auch die Teilnehmer der Geberkonferenz für den Libanon im Klaren, die am Sonntag von UNO-Generalsekretär Guterres und Frankreichs Präsident Macron geleitet wurde. Dieser forderte in seiner Eröffnungsbotschaft die libanesische Politik erneut auf, mit umfassenden Reformen den Wiederaufbau des Landes zu unterstützen. Für Unbehagen bei den meisten Geberländern sorgt vor allem die Beteiligung der proiranischen Hisbollah an der noch amtierenden Beiruter Regierung, deren Ende nach dem Rücktritt einiger Minister womöglich bevorsteht.
Die Schiitenorganisation wird von der Hälfte der Libanesen als „Staat im Staate“wahrgenommen, der eine prowestliche Ausrichtung des Landes konsequent torpediert. Eine von Emmanuel Macron vorgeschlagene internationale Untersuchung der Beiruter Explosionskatastrophe hat Hisbollah-Chef Nasrallah bereits abgelehnt.