Salzburger Nachrichten

Navid Kermani blickt auf eine Kutschenfa­hrt

Fünf Jahre nach dem Plan für ein Festspielh­aus bestieg ein Bub in Isfahan eine Kutsche. Eine Wirkung davon zeigte sich am Sonntag.

- Navid Kermani schilderte ein „iranisches Jahrhunder­t“.

Was ist in den 100 Jahren passiert, in denen Salzburger Festspiele stattgefun­den haben? Der deutsche Schriftste­ller und Orientalis­t Navid Kermani begann am Sonntag in der Felsenreit­schule in der zweiten Veranstalt­ung der „Reden über das Jahrhunder­t“seinen Blick auf diese Epoche aus einem von Salzburg weit entfernten Winkel dieser Welt: mit einer Kutschenfa­hrt von Isfahan nach Teheran.

Ein persischer Bub, Navid Kermanis späterer Großvater, wurde im Jahr 1895 – also fünf Jahre nachdem das erste Salzburger Festspielh­aus auf dem Mönchsberg geplant worden war – von Eltern sowie fünfzig oder sechzig Verwandten mit vielen guten Wünschen, lauten Zurufen und vielen Tränen in den Vierspänne­r bugsiert, der, so Gott wollte, nach vier Tagen und fünf Nächten durch Steppe, Wüste und über Bergrücken Teheran erreichen sollte. Ein Engländer nahm – „aus reiner Freundlich­keit“– während der langen, gefährlich­en Fahrt dem erstmals allein reisenden Buben mit geduldigem guten Zureden und vielen Erzählunge­n die Angst. Dieser Engländer sei „nicht feindlich“gewesen, obwohl die beiden Staaten „einander feindlich“gewesen seien, hob Navid Kermani hervor. Das Ziel des Buben in Teheran sei die dortige amerikanis­che Schule gewesen, die

„Kaderschmi­ede der demokratis­chen Elite“des Iran.

Diese Kutschenfa­hrt hat Navid Kermani im Roman „Dein Name“aus 2011 beschriebe­n. Am Sonntag las er bei den Salzburger Festspiele­n aus diesem über 1200-seitigen Mammutwerk das, was er „Großvater-Strang“bezeichnet­e – die Stelle von der Kutschenfa­hrt als Bub bis zum Besuch in dem Haus in Ahmad Abad, in dem der 1953 vom US-Geheimdien­st CIA gestürzte iranische Premiermin­ister Mohammad Mossadegh bis zu seinem Tod 1967 unter Hausarrest gelebt hatte. Zwischen den gelesenen Passagen stellte Kermani politische Zusammenhä­nge her und hob Wendepunkt­e hervor, die die Welt verändern sollten.

Seine Lesung schildere ein Jahrhunder­t nicht primär aus europäisch­er Sicht, sondern „ein iranisches Jahrhunder­t“. Auf die Frage nach wichtigen Jahren im 20. Jahrhunder­t nennten viele 1945 und 1989. Doch: „1989 wäre nicht möglich gewesen ohne 1979“, stellte Kermani fest. In diesem Jahr marschiert­en die Sowjets in Afghanista­n ein, und in der iranischen Revolution wurde

Schah Mohammad Reza Pahlavi gestürzt, der zuvor – nach dem Putsch von 1953 – von den Amerikaner­n installier­t worden war.

Navid Kermani erinnerte daran, dass 1953 der damalige US-Botschafte­r das Geld für den zum Putsch herangekar­rten Mob jenem Ayatollah gegeben habe, der Lehrer von Khomeini gewesen sei. Dieser sollte 1979 den von den USA gestützten Schah wegputsche­n. Und aus Angst vor einer islamische­n Revolution hätten noch im gleichen Jahr die Russen Afghanista­n besetzt. Eine weitere Folge des iranischen Putschs von 1979 sei die Stärkung des wahhabitis­chen Regimes gewesen, was wiederum eine Stärkung Saudi-Arabiens und die Ausbreitun­g des Wahhabismu­s bewirkt habe, sei es in Bosnien oder Belgien. Ohne US-Putsch gegen Mossadegh hätte es also keinen Anti-US-Putsch gegeben, folgerte Navid Kermani. Ohne diesen wiederum wäre es nicht zu 9/11 gekommen, nicht zum IS-Terror in Paris, nicht zum Aufschwung des Rechtspopu­lismus in Europa und vermutlich nicht zum Brexit. „Die Geschichte wirkt nach, lange Zeit.“

Und ohne den iranischen Machtwechs­el 1953 gäbe es auch nicht so viele persische Ärzte in Österreich oder Deutschlan­d – als Ausdruck der damals einsetzend­en Emigration aus dem Iran, deretwegen Navid Kermani selbst 1967 in Siegen in Deutschlan­d geboren werden sollte.

Was hat dies mit der Kutschenfa­hrt zu tun? „Dort und damals hat unsere Reise begonnen“, sagte Navid Kermani. Das Erlebnis mit dem freundlich­en Engländer sowie die Ausbildung in der amerikanis­chen Schule hätten seinen Großvater zeit seines Lebens „mit Verehrung vom Westen“sprechen lassen. Also habe er sein eigenes kosmopolit­isches Bewusstsei­n nicht nur, weil er Kant gelesen habe, sondern auch von der Grundhaltu­ng seines Großvaters, der später großbürger­licher, frommer Bankdirekt­or in Isfahan war.

Die zwei Generation­en vor ihm während und dank dieser Kutschenfa­hrt erfahrene Freundlich­keit und gegenseiti­ge Zuneigung kippte durch den Putsch 1953. Zwischen dem Iran und den USA sei eine „Liebesgesc­hichte“gewesen, die in Hass umgeschlag­en sei, sagte Navid Kermani. Denn nur wo es Liebe gebe, sei auch Verrat möglich.

Und jetzt? Die Pandemie habe für ihn fundamenta­le Auswirkung­en, sagte Navid Kermani. Nun könne er nicht mehr in Krisengebi­ete reisen, um von dort zu berichten. Aus Ländern außerhalb Europas seien bis auf Weiteres nur Schlagzeil­en zu erfahren. Doch: „Wenn wir nicht erfahren, was draußen passiert“, erfahren wir nicht, was mit uns passieren könnte.

Reden über das Jahrhunder­t:

Anita Lasker-Wallfisch, 15. August, Elisabeth Orth, 22. August, beide um 12 Uhr in der Felsenreit­schule.

„Dort und damals hat unsere

Reise begonnen.“

Navid Kermani, Schriftste­ller

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BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER

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