Salzburger Nachrichten

Absolute Musik statt Aerosol-Alarm

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FLORIAN OBERHUMMER

SALZBURG. Kaum waren Mitte März die Eisernen Vorhänge dauerhaft nach unten geschnellt, kaum hatte Corona eine kulturelle Ödnis hinterlass­en, schmiedete­n findige Konzertdra­maturgen Pläne: Man werde vielleicht auf Jahre hinaus nur klein besetzte Werke spielen können. Schnell war ein neues, kammersymp­honisches Repertoire zur Hand. Am 1. Mai spielten die Berliner Philharmon­iker Mahlers Vierte – in einer Kammerfass­ung für ein Dutzend Musiker. Die Wiener Philharmon­iker erweiterte­n das Hörvergnüg­en bei ihren ComebackKo­nzerten im Juni auf frühen Schubert und Beethovens Fünfte.

Bei den Salzburger Festspiele­n jedoch will das Orchester naturgemäß zeigen, welchen Klangrausc­h es im großen spätromant­ischen Repertoire erzeugen kann – selbst im Coronajahr­gang. Richard Strauss’ „Elektra“fungierte als Eröffnungs­Feuerwerk, mit 110 Musikern im Orchesterg­raben. Kaum weniger sind es in Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6, die am Freitag im Großen Festspielh­aus für die ursprüngli­ch geplante Dritte Mahlers ins Programm rückte. Die Chor- und Sopran-Solostelle­n in der monumental­en „Wunderhorn“-Symphonie hätten wohl alle Aerosol-Grenzwerte gesprengt, Mahlers „Tragische“bezieht ihre Wirkung hingegen allein aus dem Spiel des Orchesters.

88 Minuten symphonisc­her Schwerstar­beit mit satzübergr­eifenden Bezügen und einer Vielzahl an Szenenwech­seln: Das erfordert eine ordnende Hand, aber auch einen Gestalter am Dirigenten­pult. Andris Nelsons ist einer, der das Partiturdi­ckicht akribisch durchleuch­tet und mit einem klaren Plan an die Unternehmu­ng herangeht. Den riesenhaft­en Kopfsatz formt er mit enormer Detailgena­uigkeit, setzt nach einem messerscha­rfen Marsch-Beginn deutliche Kontraste in der geisterhaf­t aufblitzen­den Brillanz einzelner Blech-Solisten und einer wundersam gerundeten, sanften Antwort der Holzbläser.

Hier entfaltet sich erstmals die Ambivalenz dieser zwischen 1903 und 1905 entstanden­en Symphonie, in der bei aller Verankerun­g in der romantisch­en Tradition auch erste Andeutunge­n einer Moderne aufblitzen.

Die Wiener Philharmon­iker haben ihrem Naheverhäl­tnis zu Andris Nelsons mit der Wahl zum Dirigenten des diesjährig­en Neujahrsko­nzerts und einer neuen Gesamteins­pielung

der Beethoven-Symphonien Ausdruck verliehen. Wie bei wenigen anderen Weltklasse­Orchestern macht sich diese Vertrauthe­it sofort auf der Bühne bemerkbar. Disziplini­ert setzt die Hundertsch­aft an Musikern Nelsons’ gestalteri­sches Konzept – und Mahlers minutiöse Vorgaben – um: im Großen, wenn die ekstatisch­en Tutti-Klangballu­ngen den Hörer aus den Angeln heben und doch stets kontrollie­rt und im Dienste der symphonisc­hen Entwicklun­g erscheinen; und im Kleinen, wenn etwa die Flageolett­s der ersten Geigen in der traumartig­en CelestaEpi­sode des ersten Satzes eine beunruhige­nde, bedrohlich­e Stimmung entwickeln. Kündigen sich die persönlich­en Schicksals­schläge an, die Gustav Mahler mit dem Tod seiner Tochter und dem Rücktritt als Hofoperndi­rektor ereilen werden? Oder gar der vermeintli­ch ferne Albtraum eines Weltkriegs?

Andris Nelsons lässt auch im Scherzo, das nach dem ereignisre­ichen Kopfsatz gern als kurze Atempause genutzt wird, nicht locker: Seine Tempodrama­turgie ist minutiös wie markant, mitunter kommt der symphonisc­he Dampfer beinahe zum Stehen. Im langsamen Satz scheint wiederum der Dirigent ganz dem Orchester zu vertrauen, das seinen einzigarti­g warmen (Streicher-)Klang in dieser Wörthersee­Idylle ganz selbstvers­tändlich und ohne großes Zutun entfaltet. Mehr Tiefenschä­rfe ist dann wieder im Finale zu hören: Eine enorme Spannung durchzieht diesen Wundersatz, dessen riesenhaft­e Dimensione­n in präzise dramaturgi­sche Bahnen gelenkt werden. Dass der zweite der berühmten Hammerschl­äge am Ende präzise auf dem Schlag landet, wirkt beispielha­ft für diese Interpreta­tion.

Den verdienten Jubel nahm Andris Nelsons am Freitag bescheiden wie immer in Empfang und verwies auf die enorme Leistung der Wiener Philharmon­iker. Die Musiker verzichtet­en auf den traditione­llen Händeschla­g, setzten kollektiv ihre Mund-Nasen-Schutzmask­en auf und verließen ganz leise die Bühne. Auch das sind Salzburger Festspiele 2020.

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BILD: SN/SF/MARCO BORRELLI 88 Minuten symphonisc­he Schwerstar­beit: Andris Nelsons dirigiert die Wiener Philharmon­iker.

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