Als Franz Welser-Möst die existenzielle Stille erlebte
Der Dirigent blickt zum 60. Geburtstag in einer neuen Autobiografie auf Schlüsselmomente seines Lebens zurück.
SALZBURG. „Die Zeit schien aufgelöst, ebenso wie die Schwerkraft“, schreibt Franz Welser-Möst. Am 19. November 1978 erlitt der Gymnasiast einen schweren Autounfall. Die gesundheitlichen Folgen sollten sein Leben verändern, sein Traum von einer Karriere als Geiger zerplatzte aufgrund eines Nervenleidens in der Hand. Minutiös lässt er den Leser an seinen Gedanken in diesem Schlüsselmoment – „Mir war mit 18 Jahren der Tod begegnet“– teilhaben: „Die Stille, die ich in diesem Moment auf der Rückbank unseres Autos wahrnahm, klang anders. Eine Stille, wie ich sie zuvor höchstens in der Musik erlebt hatte: ein Aussetzen von Zeit und Raum.“
Die Stille und ihre Erscheinungsformen sind Ausgangspunkt eines Buchs, das Franz Welser-Möst anlässlich seines bevorstehenden „runden“Geburtstags schrieb: Am 16. August feiert der gebürtige Linzer seinen 60. Geburtstag. Der Dirigent befindet sich auf der Höhe seiner Schaffenskraft: Seit Jahren sorgt er bei den Salzburger Festspielen mit seinen Interpretationen der Opern von Richard Strauss für Sternstunden, 2027 könnte er als dann längstdienender Chefdirigent des Cleveland Orchestra sein 25Jahr-Jubiläum feiern. Im September kehrt er mit der „Elektra“an die Wiener Staatsoper zurück – das Haus, das er 2014 als Generalmusikdirektor im Streit mit Intendant Dominique Meyer verlassen hat.
„Als ich die Stille fand“ist dennoch eine Rückschau und Bilanz, Gedanken- und Anekdotensammlung. Franz Welser-Möst erzählt von seiner Kindheit, die vom gemeinsamen Musizieren im Haus seiner Großmutter in Wels geprägt war. Und von den Musikstunden bei der strengen geistlichen Schwester Gerburga, die kaum konträrer sein können als jener freie, losgelöste Zugang zur Welt der Musik, den ihm der prägende Lehrmeister Balduin Sulzer später in Linz eröffnen sollte. In Cleveland setzt er die daraus gewonnenen Erkenntnisse um. Musikvermittlung und -förderung stellt ein großes Thema seines Buchs dar. „Ich komme in ein Alter, wo man darüber nachdenkt, was man weitergeben will. Das Buch soll jungen Musikern und Künstlern Mut zu machen, ihren eigenen Weg zu gehen“, sagt Welser-Möst im SN-Gespräch.
Der eigene Weg kann auch ein Scheitern zur Folge haben. Seine bitteren Lehrjahre als Chef des London Philharmonic Orchestra, aber auch den anfänglichen medialen Gegenwind in Cleveland oder an der Zürcher Oper arbeitet Franz Welser-Möst in seiner Autobiografie auf: „Ich bin viel geprügelt worden in meinem Leben.“So schmerzhaft manche Erfahrungen mit Musikkritikern gewesen sein müssen, so versöhnlich klingt die Schlussfolgerung: „Die Spannung der Berufsstände besteht (...) darin, dass Musik für beide Seiten ein Gefühl intimster Leidenschaft darstellt.“
Apropos Leidenschaft zur Musik: Zum 60. Geburtstag seines Chefdirigenten hat das Cleveland Orchestra die 3-CD-Box „A New Century“mit Liveaufnahmen aus jüngster Zeit veröffentlicht. Ob in den funkelnden „Amériques“von Edgard Varèse oder Sergej Prokofjews mitreißender 3. Symphonie: Stets scheinen Franz Welser-Mösts Liebe zu kleinsten Details und seine Fähigkeit durch, großen Orchesterklang zu ordnen und durchhörbar zu formen. Beispielhaft wird es, wenn Richard Strauss musiziert wird – ob in der Liveaufnahme der Tondichtung „Aus Italien“mit dem Cleveland Orchestra oder eben in der diesjährigen Festspiel-„Elektra“mit den Wiener Philharmonikern.
„Ich bin viel geprügelt worden in meinem Leben.“
Franz Welser-Möst, Dirigent
Buch: „Als ich die Stille fand“, Franz Welser-Möst. Brandstätter Verlag, 192 Seiten.