Die Chance zur Stunde null im Libanon
Nach der Explosion in Beirut wäre ein Neuanfang im Libanon möglich. Neuwahlen auf Basis des alten Machtsystems sind aber der falsche Weg.
Im Oktober 2019 gingen rund eine Million Libanesen auf die Straße. Sie hatten genug von einem Machtkartell, das den Staat gekapert hatte, um sich und seine Klientel zu bereichern. Doch hat sich dieses System als ziemlich widerstandsfähig erwiesen. Die Explosion in Beirut hat, angesichts von nahezu 200 Toten und der Verwüstung ganzer Stadtviertel, wenigstens die Hoffnung geweckt, quasi in einer Stunde null den Libanon nicht nur physisch, sondern auch institutionell wiederaufzubauen. Diese Hoffnung könnte trügen.
Die konfessionelle Diversität des Libanon ist bekannt. Es ist aber nie eine belastbare nationale Identität entstanden, wie etwa in der Schweiz mit ihren drei Landesteilen. Um den fragilen Zusammenhalt zu sichern, hat man keine allgemeine Repräsentation eingeführt, sondern eine Form der Konkordanz, wo die Parlamentssitze sowie die Staatsführung unter den Konfessionen aufgeteilt werden.
Dieses System wurde nach Ende des Bürgerkriegs 1990 fortgeführt. Die Milizen gaben zwar – mit Ausnahme der Hisbollah – ihre Waffen ab, formten aber Bewegungen, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht ausüben. Aus Warlords wurden politische Unternehmer, die ihre Macht nutzten, um sich und ihre Klientel zu bereichern. Sie spielen sich und ihrer Klientel Staatsaufträge zu, die sie sich fürstlich vergüten lassen, ohne angemessene Leistungen zu erbringen. Die Regierungsbildung streckte sich regelmäßig über Monate hin und ähnelte einem Geschachere um Führungs- und Budgetposten. Das Ergebnis wurde dann in einer „Regierung der nationalen Einheit“festgehalten. Deswegen ähnelt der
Libanon einem Mafiastaat, der von einer Handvoll „Paten“(Zua’ama) kontrolliert wird.
Die Explosion offenbart das kriminelle Versagen der Eliten. Doch das Machtkartell aufzubrechen ist nicht so einfach. In der Bevölkerung Loyalität zum Staat aufzubauen ist eine schwierige und langfristige Aufgabe. Ziel müsste es sein, ein ordentliches Staatswesen aufzubauen, das dem öffentlichen Interesse dient, nicht Privatinteressen. Das wird nur mit Druck von außen möglich sein, denn die Herrschenden werden nicht von selbst abtreten. Zudem würden sie versuchen, ein entstehendes Machtvakuum für ihre Interessen auszunutzen und sich als Protektoren ihrer Gemeinschaften aufzuspielen.
Es bräuchte eine unabhängige Übergangsregierung, die Notfallmaßnahmen trifft, um die Krise einzudämmen, ein IWF-Programm zu verhandeln, die humanitären Hilfen für die Opfer der Explosion zu koordinieren und den Wiederaufbau einzuleiten. Dabei ist es entscheidend, dass die Hilfsmittel wirklich ihren Zwecken zugeführt werden und nicht wieder versanden. Diese Gefahr besteht in verstärktem Maße für den Wiederaufbau, denn der Bausektor
ist in der Hand der alten korrupten Eliten. Es wäre nachgerade pervers, wenn durch die Wiederaufbauhilfe nun die alten Machtstrukturen gestärkt würden.
Wenn die internationale Gemeinschaft nun Hilfe leistet, steht sie auch in der Verantwortung, Transparenz und Rechenschaftspflicht sicherzustellen. Zu oft hatte man in der Vergangenheit um vermeintlicher Stabilität willen beide Augen zugedrückt. Neben NGOs spielen die Berufsvereinigungen eine wichtige Rolle. Diese sind in letzter Zeit vermehrt in Opposition zur Machtelite getreten. Mit ihrer Professionalität sind sie glaubwürdige Partner.
Um das konfessionelle System aufzubrechen, müssten zudem Gesetze erlassen werden, um die gleiche Stellung aller Bürger zu garantieren, freie und allgemeine Wahlen zu ermöglichen, ein faires Steuersystem einzusetzen und um grundlegende staatliche Leistungen erbringen zu können.
Die größte Herausforderung für die Zukunft betrifft die Hisbollah. Durch ihr Engagement in Syrien hat sie sich von einer Miliz zu einer regionalen Armee entwickelt und ist den libanesischen Streitkräften überlegen. Um einen funktionierenden Staat aufzubauen, muss sie in ihre Schranken gewiesen werden, was ohne iranische Zustimmung nicht friedlich geschehen kann. Das wäre der Inhalt eines regionalen Abkommens.
Mit dem Besuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zwei Tage nach der Explosion wurde große Hoffnung verbunden, sagte er doch der Korruption den Kampf an und versprach, Verantwortung zu übernehmen, um ein neues Gesellschaftsmodell aufzubauen. Wenn dies nun, worauf vieles hindeutet, auf eine weitere „Regierung der nationalen Einheit“und auf Neuwahlen auf Basis des bestehenden Wahlgesetzes hinausliefe, wäre die Hoffnung auf einen Neuanfang zerstoben. Das alte Machtkartell hätte sich bis auf Weiteres wiederum als resilient erwiesen.
Zur Person: Dr. Andreas Böhm ist Direktor des Center for Philanthropy an der Universität St. Gallen und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Mittleren Osten. Er unterrichtet an der Universität
St. Gallen und der American University Beirut.
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