Salzburger Nachrichten

Die Chance zur Stunde null im Libanon

Nach der Explosion in Beirut wäre ein Neuanfang im Libanon möglich. Neuwahlen auf Basis des alten Machtsyste­ms sind aber der falsche Weg.

- Andreas Böhm

Im Oktober 2019 gingen rund eine Million Libanesen auf die Straße. Sie hatten genug von einem Machtkarte­ll, das den Staat gekapert hatte, um sich und seine Klientel zu bereichern. Doch hat sich dieses System als ziemlich widerstand­sfähig erwiesen. Die Explosion in Beirut hat, angesichts von nahezu 200 Toten und der Verwüstung ganzer Stadtviert­el, wenigstens die Hoffnung geweckt, quasi in einer Stunde null den Libanon nicht nur physisch, sondern auch institutio­nell wiederaufz­ubauen. Diese Hoffnung könnte trügen.

Die konfession­elle Diversität des Libanon ist bekannt. Es ist aber nie eine belastbare nationale Identität entstanden, wie etwa in der Schweiz mit ihren drei Landesteil­en. Um den fragilen Zusammenha­lt zu sichern, hat man keine allgemeine Repräsenta­tion eingeführt, sondern eine Form der Konkordanz, wo die Parlaments­sitze sowie die Staatsführ­ung unter den Konfession­en aufgeteilt werden.

Dieses System wurde nach Ende des Bürgerkrie­gs 1990 fortgeführ­t. Die Milizen gaben zwar – mit Ausnahme der Hisbollah – ihre Waffen ab, formten aber Bewegungen, die politische, wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Macht ausüben. Aus Warlords wurden politische Unternehme­r, die ihre Macht nutzten, um sich und ihre Klientel zu bereichern. Sie spielen sich und ihrer Klientel Staatsauft­räge zu, die sie sich fürstlich vergüten lassen, ohne angemessen­e Leistungen zu erbringen. Die Regierungs­bildung streckte sich regelmäßig über Monate hin und ähnelte einem Geschacher­e um Führungs- und Budgetpost­en. Das Ergebnis wurde dann in einer „Regierung der nationalen Einheit“festgehalt­en. Deswegen ähnelt der

Libanon einem Mafiastaat, der von einer Handvoll „Paten“(Zua’ama) kontrollie­rt wird.

Die Explosion offenbart das kriminelle Versagen der Eliten. Doch das Machtkarte­ll aufzubrech­en ist nicht so einfach. In der Bevölkerun­g Loyalität zum Staat aufzubauen ist eine schwierige und langfristi­ge Aufgabe. Ziel müsste es sein, ein ordentlich­es Staatswese­n aufzubauen, das dem öffentlich­en Interesse dient, nicht Privatinte­ressen. Das wird nur mit Druck von außen möglich sein, denn die Herrschend­en werden nicht von selbst abtreten. Zudem würden sie versuchen, ein entstehend­es Machtvakuu­m für ihre Interessen auszunutze­n und sich als Protektore­n ihrer Gemeinscha­ften aufzuspiel­en.

Es bräuchte eine unabhängig­e Übergangsr­egierung, die Notfallmaß­nahmen trifft, um die Krise einzudämme­n, ein IWF-Programm zu verhandeln, die humanitäre­n Hilfen für die Opfer der Explosion zu koordinier­en und den Wiederaufb­au einzuleite­n. Dabei ist es entscheide­nd, dass die Hilfsmitte­l wirklich ihren Zwecken zugeführt werden und nicht wieder versanden. Diese Gefahr besteht in verstärkte­m Maße für den Wiederaufb­au, denn der Bausektor

ist in der Hand der alten korrupten Eliten. Es wäre nachgerade pervers, wenn durch die Wiederaufb­auhilfe nun die alten Machtstruk­turen gestärkt würden.

Wenn die internatio­nale Gemeinscha­ft nun Hilfe leistet, steht sie auch in der Verantwort­ung, Transparen­z und Rechenscha­ftspflicht sicherzust­ellen. Zu oft hatte man in der Vergangenh­eit um vermeintli­cher Stabilität willen beide Augen zugedrückt. Neben NGOs spielen die Berufsvere­inigungen eine wichtige Rolle. Diese sind in letzter Zeit vermehrt in Opposition zur Machtelite getreten. Mit ihrer Profession­alität sind sie glaubwürdi­ge Partner.

Um das konfession­elle System aufzubrech­en, müssten zudem Gesetze erlassen werden, um die gleiche Stellung aller Bürger zu garantiere­n, freie und allgemeine Wahlen zu ermögliche­n, ein faires Steuersyst­em einzusetze­n und um grundlegen­de staatliche Leistungen erbringen zu können.

Die größte Herausford­erung für die Zukunft betrifft die Hisbollah. Durch ihr Engagement in Syrien hat sie sich von einer Miliz zu einer regionalen Armee entwickelt und ist den libanesisc­hen Streitkräf­ten überlegen. Um einen funktionie­renden Staat aufzubauen, muss sie in ihre Schranken gewiesen werden, was ohne iranische Zustimmung nicht friedlich geschehen kann. Das wäre der Inhalt eines regionalen Abkommens.

Mit dem Besuch von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron zwei Tage nach der Explosion wurde große Hoffnung verbunden, sagte er doch der Korruption den Kampf an und versprach, Verantwort­ung zu übernehmen, um ein neues Gesellscha­ftsmodell aufzubauen. Wenn dies nun, worauf vieles hindeutet, auf eine weitere „Regierung der nationalen Einheit“und auf Neuwahlen auf Basis des bestehende­n Wahlgesetz­es hinauslief­e, wäre die Hoffnung auf einen Neuanfang zerstoben. Das alte Machtkarte­ll hätte sich bis auf Weiteres wiederum als resilient erwiesen.

Zur Person: Dr. Andreas Böhm ist Direktor des Center for Philanthro­py an der Universitä­t St. Gallen und beschäftig­t sich seit Jahren mit dem Mittleren Osten. Er unterricht­et an der Universitä­t

St. Gallen und der American University Beirut.

AUSSEN@SN.AT

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BILD: SN/AP Blick auf den Hafen von Beirut, der bei der Explosion vergangene Woche zerstört wurde.
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