„Die Pandemie wurde ziemlich politisiert“
Führen Experten besser durch die Coronakrise als Politiker? Anders Tegnell jedenfalls hat in seiner Heimat Schweden wenige Kritiker.
Anders Tegnell (64) ist Schwedens Staatsepidemiologe und Architekt des weltweit umstrittenen Coronasonderwegs ohne Lockdown. Mit 83.126 Coronafällen und 5770 Toten sind die Pro-Kopf-Zahlen in Schweden im internationalen Vergleich hoch. Zuletzt ging die Zahl der Neuinfektionen aber zurück.
SN: In Schweden geht die Ausbreitung des Coronavirus zurück. Wie ist das möglich?
Das zeigt, dass man auch mit einem freiwilligen Ansatz Erfolg haben kann. Das kann den gleichen Effekt haben, wie wenn man die gesamte Gesellschaft mit einem Lockdown zumacht. Und dies mit bedeutend weniger negativen Nebeneffekten. Man muss als Gesundheitsbehörde auf die gesamte Volksgesundheit schauen. Auch darauf, inwieweit die Effekte eines Lockdowns die Menschen so belasten, dass andere Sterblichkeitsraten, wie die Selbstmordrate, steigen. Oder auch, ob bei schwer kranken Menschen die Hemmschwelle für einen Arztbesuch erhöht wird.
SN: Warum haben Sie nicht einmal eine Maskenpflicht eingeführt?
Wir wissen noch immer wenig darüber, inwieweit Masken die Pandemie dämpfen können. Wir haben Länder mit verstärkter Maskenpflicht, die dennoch unter einer sehr großen Coronaausbreitung leiden. In Schweden haben wir keine Anzeichen, dass es eine große Ansteckungsgefahr
etwa auf Transportwegen gibt. Wir haben ausreichende Kapazitäten, um stattdessen Abstand zu halten. Auch können Masken Menschen in falscher Sicherheit wiegen.
SN: Sie sprachen einmal von einem dritten Weg zwischen einem totalen Lockdown und dem lockereren schwedischen Weg. Was meinten Sie damit?
Mit dem Wissen, das wir heute über den Verlauf der Pandemie haben, würden wir einige Sachen vielleicht etwas anders machen. Vor allem einen noch schnelleren Schutz der Altenheime gewährleisten. Das war unsere Schwachstelle.
SN: Was ist mit der Herdenimmunität in Schweden?
Es ist schwer, exakte Werte für die Herdenimmunität zu ermitteln. Aber wir glauben, bei 20 bis 40 Prozent Immunität in der Bevölkerung in Stockholm zu liegen. Die Herdenimmunität war aber nicht unser Ziel. Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden. Aber wir wissen: Je größer der Teil der Bevölkerung ist, der durch eine Erkrankung immun geworden ist, desto einfacher wird es, weitere Ausbrüche zu bewältigen. Es gibt also Gründe, anzunehmen, dass die hohe Immunitätsrate eine neue umfassende Coronawelle verhindern kann. Ausbrüche kann es aber weiter geben. Da muss man auf der Hut bleiben.
SN: Ihr Gesundheitsamt hat als Expertengruppe anscheinend einen Freibrief im Umgang mit der Coronakrise. Die Politiker hielten sich sehr zurück. Welchen Einfluss hat die Politik auf die Coronastrategie?
Wir stehen die ganze Zeit über in sehr engem Dialog mit der Politik. Aber die Politik kümmert sich um ihren Teil und wir um unseren. Man mischt sich da traditionell nicht gegenseitig ein. In Schweden genießen Politik und Behörden ein sehr großes Vertrauen im Volk, das darauf setzt, dass wir alle das Bestmögliche in unserem Bereich tun.
SN: Kollegen von Gesundheitsämtern in anderen Ländern haben hinter vorgehaltener
Hand beklagt, dass die Politik in der Pandemie zu viel übernommen hat, statt Entscheidungen den Experten zu überlassen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ja, das sind Signale, die auch ich von meinen Kollegen und Kolleginnen der zuständigen Behörden in ziemlich vielen EU-Ländern bekommen habe. Viele Fragen zur Pandemie sind dort leider ziemlich politisiert worden.
SN: Gab es in Schweden viel
Kritik an Ihrem Sonderweg?
Nein. Es gab eine kleine Forschergruppe, die sehr kritisch war, aber wir haben ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Das zeigen alle Meinungsumfragen. 80 Prozent aller Schweden folgen unseren Empfehlungen, was ja eine hohe Zahl ist. Kritik an unserer Coronastrategie aus dem Volk hat es im Grunde nicht gegeben.
SN: Warum kam so viel Kritik von Medien im Ausland?
Es gab auch Medien, die sehr interessiert und verständnisvoll waren. Das war sehr gemischt. Deutsche Medien waren vielleicht kritischer als andere. Es ist natürlich eine indirekte Kritik an der Strategie des eigenen Landes, wenn man auf ein Land wie Schweden schaut, das weniger dramatische Maßnahmen ergriffen und die gleichen Effekte erzielt hat.