Rennen um Corona-Impfung ist heiß
Auch wenn etliche Impfstoffe gegen das Coronavirus bereits in der letzten klinischen Testphase sind: Experten warnen vor überhasteter Zulassung. Was, wenn eine Nebenwirkung sich erst nach einigen Wochen zeigt?
BERLIN. Unabhängig von Russlands PR-Coup einer frühen Impfzulassung laufen international die Testreihen für weitere Kandidaten möglicher Wirkstoffe weiter. Präsident Wladimir Putin hat zwar per Dekret den langen Prozess einer seriösen Zulassung abgeschnitten. Doch andere Firmen und Universitäten sind mit ihren Testprogrammen schon mindestens ebenso weit, zum Teil auch deutlich weiter. Sie warten bloß auf die Ergebnisse und die Auswertung umfangreicher Tests, bevor sie sich mit Erfolgsmeldungen an die Öffentlichkeit wagen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit 160 Testreihen angelaufen, viele davon sollen bereits vielversprechende Ergebnisse liefern.
Ein weiteres Land eilt derweil neben Russland ebenfalls mit besonderer Hast auf eine Impfzulassung zu: Präsident Donald Trump wünscht sich noch vor der Wahl am 3. November ein fertiges Produkt. „Ich glaube, dass wir eine Impfung um dieses Datum herum haben werden“, sagte er am vergangenen Donnerstag. Wie viele andere Aussagen Trumps ist allerdings auch diese mit Vorsicht zu behandeln.
Die besten Chancen, diesen Termin irgendwie einhalten zu können, hat in den USA das Unternehmen Moderna aus Massachusetts. Es entwickelt einen Impfstoff auf Basis von Gentechnik, der sogenannten mRNA-Technologie. Davon lassen sich die nötigen Mengen für eine Massenimpfung besonders schnell herstellen.
Der Nachteil ist jedoch ein eher höherer Bedarf an Erfahrungswerten und Tests, weil die Nutzung von mRNA ein vergleichsweise junges Verfahren mit nur zehn Jahren Anwendungsgeschichte
ist. Bis jetzt wurde kein solcher Impfstoff zugelassen. Moderna befindet sich jedoch immerhin bereits in Phase drei seiner Testreihen; die Phasen eins und zwei haben die Forscher laut eigener Aussage mit guten Resultaten abgeschlossen.
Doch die aktuellen Tests kommen nicht mit der hohen Geschwindigkeit voran, die Trump sich wünscht. Von 30.000 gesuchten Teilnehmern hat Moderna erst rund 4500 gefunden. Die letzten von ihnen werden ihre erste Spritze vermutlich erst im September erhalten. Von dem Zeitpunkt bis zum Wahltag sind es nur zwei Monate. Wie soll sich in dieser kurzen Zeit zeigen, ob die Substanz wirksam vor SARS-CoV-2 schützt? Was, wenn eine Nebenwirkung sich erst nach einigen Wochen zeigt? Experten halten Trumps Zeitplan daher für viel zu ehrgeizig. Früher hat die Entwicklung einer Impfung aus gutem Grund ein Jahrzehnt gedauert.
Der Dachverband der Auftragsforschungsinstitute ACRO warnte gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg davor, nötige Schritte zu überspringen. Der Verband schickte nun auch einen entsprechenden Brief an die russische Regierung. „Die Regeln für klinische Studien sind in Blut festgeschrieben“, warnte die Organisation. Sie gelten für alle Länder. „Wir wissen nicht, was mit Menschen passiert, die einen unzureichend durchgetesteten Impfstoff erhalten.“
Auch Deutschland hat zwei Firmen, die einen Impfstoff auf Basis von mRNA entwickeln und damit in der Hightech-Oberliga mitspielen. Doch sie gehen die Sache vorsichtiger an und lassen sich mehr Zeit, um Risiken auszuschließen. Curevac in Tübingen und Biontech in Mainz sind in ihren Tests am Menschen schon weit fortgeschritten und konnten keine Probleme mit dem Wirkstoff feststellen. Dennoch erwartet Biontech eine Zulassung frühestens Ende des Jahres.
Als Trick, um die Auslieferung dennoch zu beschleunigen, könnte das Unternehmen die Substanz immerhin auf Vorrat produzieren, bevor die letzten Tests abgeschlossen sind. Biontech ist optimistisch, so bis Jahresende 100 Millionen Impfdosen oder mehr liefern zu können, im Laufe des kommenden Jahres dann gut eine weitere Milliarde. Curevac rechnet für Herbst mit dem
Beginn seiner Phase-2-Studie „mit einer signifikanten Anzahl von Teilnehmern“. Erst danach lasse sich der weitere Verlauf seriös abschätzen. Die Stimmen der Unternehmer, Wissenschafter, Politiker und Behörden in der EU klingen generell vorsichtiger als die in Russland, den USA und China, die sich in Fantasien eines nationalen Kraftakts ergehen, der sich über die Naturgesetze erhebt. Denn biologische Forschung braucht Zeit.
Und nicht nur das. Die konventionellen Impfstoffe, wie sie in Russland und China in Entwicklung sind, haben einen Hinkefuß. Sie lassen sich zwar vergleichsweise schnell entwickeln, weil die Verfahren seit 150 Jahren bewährt sind. Es sind hier keine unbekannten Risiken zu erwarten.
Doch die Herstellung des Endprodukts ist umständlicher. Das ist der Grund dafür, dass Jahr für Jahr der Grippeimpfstoff knapp ist, obwohl auch dieser Tausende Leben retten könnte. Die Grippe mutiert schnell. Die Hersteller können aber nicht im Jahrestakt genügend Viren auf ihren Hühnereiern züchten, um damit alle durchzuimpfen – oder sie können es nur mit enormem Kostenaufwand.
Putin kann also dem GamalejaInstitut für Epidemiologie und Mikrobiologie grünes Licht geben, doch es wird schwer, die nötigen Mengen für ganze Bevölkerungen zu produzieren, selbst wenn die Massenproduktion wie angekündigt schon im kommenden Monat beginnt. Moderna, Biontech und Curevac haben durch ihre neuere Technik in der Massenproduktion einen Vorsprung.
„Die Regeln für klinische Studien sind in Blut festgeschrieben.“