Schweden erlebt keine zweite Welle
Schweden ist das einzige EU-Land, in dem seit Sommerbeginn die Zahl der wöchentlichen Corona-Neuinfektionen kontinuierlich zurückgeht. Staatsepidemiologe Anders Tegnell erklärt, warum.
Kaum ein Land wurde in den vergangenen Monaten so heftig für seinen lockeren Sonderweg ohne Lockdown und Maskenpflicht in der Coronakrise kritisiert wie Schweden. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. „Ist das offene Schweden der Gewinner in Skandinavien?“, schreibt etwa der „Telegraph“. Die „Sun“erhebt Anders Tegnell gar zum „Helden“, der Schweden „rettete“. Er sei inzwischen in Schweden so populär, als ob er das fünfte Mitglied von ABBA sei.
Fast alles blieb in Schweden erlaubt. Kindergärten, Büros, Geschäfte und Schulen für unter 16Jährige blieben offen. Auch anders als praktisch überall anderswo verzichtete Schweden darauf, MundNasen-Schutz in der Allgemeinheit auch nur zu empfehlen, und begründete dies mit der dünnen Evidenzlage bezüglich der Frage, ob ein solcher effektiv die Verbreitung eines Virus verhindern kann. Lediglich ein Besuchsverbot in Altersheimen und eine Sitzplatzpflicht in der Gastronomie wurden eingeführt. Noch bis zum 29. März durften 500 Menschen zusammenkommen. Bis heute sind es maximal 50.
„Das Umdenken im Ausland über die schwedische Strategie hat mit unseren guten und stabilen Zahlen zu tun“, sagt Anders Tegnell, Staatsepidemiologe und Architekt des schwedischen Sonderwegs, gegenüber den SN. „Wir sind sehr zufrieden mit dem eingeschlagenen Weg. Die Zahlen haben sich drastisch vermindert in den letzten Monaten, viel schneller, als wir dachten. Nun gehören wir zu den Ländern in Europa mit der geringsten Streuung.“
Tatsächlich sind die Werte beeindruckend. Die Neuinfektionen liegen seit Wochen bei etwa 100 bis 200 am Tag. Mitte Juni war Schweden mit 67,4 wöchentlichen CovidNeuinfektionen pro 100.000 Einwohner noch Schlusslicht in der EU. Österreich verzeichnete damals moderate 2,4 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Mitte September hat sich das Bild umgedreht. Während in Österreich die Zahl 36,5 immer mehr andere Länder veranlasst, eine Reisewarnung für Österreich auszugeben, liegt Schweden mit einer Neuinfektionszahl von 14,3 im unteren Drittel der EU.
„Wir haben auf einen Lockdown verzichtet und erleben derzeit keine zweite Welle wie viele andere Länder. Das zeigt, dass unsere Strategie nachhaltig ist“, sagt Tegnell. In Metropolen wie Stockholm seien vermutlich um die 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung immun, fügt er hinzu. Genaue Werte gebe es nicht, aber das verhindere teilweise, dass sich das Virus wieder in einer zweiten Welle ausbreite, sagt Tegnell.
Als Grund für die neuerlich steigenden Zahlen in anderen Ländern nennt Tegnell die radikalen Lockdowns. „Es ist klar, dass das Leben für Menschen in einem Lockdown sehr belastend war – psychisch, gesundheitlich – und dass sie nun wieder ihre Freiheit haben wollen“, sagt Tegnell. „In Schweden haben wir nichts verändert, die gemäßigten freiwilligen Vorsichtsmaßnahmen gelten auch jetzt noch und die Schweden halten sich weiter daran. Sie wurden nicht zuvor von einem Lockdown belastet und haben dann die Geduld verloren. Unsere Strategie ist auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Sie soll lange halten.“
Ob man in Österreich auch die schwedische Strategie hätte fahren sollen? „Ich bin nicht der Richtige, um zu beurteilen, was für andere Länder gut ist. Aber grundsätzlich denke ich, dass Österreich auch mit einem gemäßigteren Weg wie
Schweden Erfolg hätte haben können“, sagt Tegnell.
Wegen der guten Entwicklung ist Schweden derzeit dabei, selbst die wenigen Regeln wieder zu lockern. Das Besuchsverbot in Altersheimen wurde kürzlich wieder aufgehoben. Zudem hat das Gesundheitsamt der Regierung geraten, ab 1. Oktober die Maximalgrenze bei öffentlichen Zusammenkünften wieder von 50 auf 500 Menschen zu erhöhen.
Während viele Schweden plötzlich zum Vorbild erklären, bleibt eine traurige Tatsache bestehen: Schweden hat im Vergleich zu anderen Ländern mit 5800 Toten eine sehr hohe Todesrate zu beklagen. Anders Tegnell verwehrt sich allerdings dagegen, Schwedens Gesamtstrategie dafür verantwortlich zu machen. Zwei andere Faktoren seien ausschlaggebend gewesen. Zum einen hätten Altersheime zu Beginn nicht das nötige Know-how gehabt, um eine Ausbreitung zu verhindern. „Im Grund geht es da um normalen Standard beim Infektionsschutz, um Dinge also, die permanent funktionieren müssen, nämlich auch, wenn es keine Pandemie gibt“, sagt Tegnell. Das habe man schnellstmöglich behoben. „Ich denke, dass punktuelle Maßnahmen etwa zum Schutz der Alten besser sind als große Maßnahmen wie Lockdowns ganzer Länder.“
Ein zweiter Grund für die hohe Todeszahl in Schweden sei laut einem wissenschaftlichen Report die milde Grippewelle 2019 in Schweden gewesen. Viele sehr alte und kranke Menschen gehörten zu den Ersten, die während einer gewöhnlichen, härteren Grippewelle sterben würden. Weil die Grippewelle 2019 so mild war, seien diese Menschen stattdessen 2020 an Covid-19 gestorben, erklärt Tegnell. In den Nachbarländern sei die Grippewelle 2019 laut Statistik stärker gewesen.
„Wir sind mit unserem Weg zufrieden.“
Anders Tegnell, Staatsepidemiologe