Schweden und seine hohe Sterberate
Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der Schweden ohne Maskenpflicht und Lockdown durch die Pandemie manövriert, hat eine Erklärung für die vielen Covid-19-Toten im Land. Kollegen in den Nachbarländern bezweifeln, dass er recht hat.
„Wir sind zufrieden mit dem eingeschlagenen Weg“, sagte Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe, zu Beginn dieser Woche. Diese Worte sind bemerkenswert. Im Frühjahr nämlich, auf dem Höhepunkt der Pandemie, hatte sich die schwedische Behörde für Volksgesundheit gegen einen Lockdown entschieden. Die Regierung folgte.
Es hagelte Kritik – vor allem aus dem Ausland. Nun hat sich das Blatt gewendet: Schweden ist derzeit laut EU-Statistik das einzige Land der Union, in dem seit Sommerbeginn die Zahl der wöchentlichen Coronaneuinfektionen kontinuierlich zurückgeht. Die Befürworter sehen die derzeitigen Zahlen als Bestätigung für die Strategie.
Doch eine Sache macht es schwer, den schwedischen Weg als Erfolgsmodell zu sehen: In den Monaten der vergleichsweise großen Freiheit hat Schweden eine massive Welle von Covid-19-Todesfällen durchgemacht, in vielen Pflegeheimen wütete das Virus fast unkontrolliert. Die schwedische Coronasterberate liegt mit 5860 Toten ungefähr zehn Mal höher als in Norwegen und Finnland.
Anders Tegnell wehrt sich dagegen, die schwedische Strategie als Ursache dafür zu nennen. Er sieht andere Gründe: Einerseits den anfangs mangelhaften Infektionsschutz in den Altersheimen. Zudem liefert er nun eine neue Erklärung für die hohe Opferzahl. Doch stimmt sie auch?
Laut einem neuen wissenschaftlichen Report sei die milde Grippewelle 2019 in Schweden ein entscheidender Faktor gewesen, sagt Tegnell. Viele sehr alte und kranke Menschen gehörten zu den Ersten, die während einer gewöhnlichen, härteren Grippewelle sterben würden. Weil die Grippewelle 2019 so mild verlaufen sei, seien diese Menschen stattdessen 2020 an Covid-19 gestorben. In den Nachbarländern sei die Grippewelle 2019 laut Statistik stärker gewesen.
Während Tegnells Kollegen aus den Nachbarländern an dieser Erklärung ihre Zweifel haben, halten andere sie für völlig korrekt. So etwa Niklas Arnberg, Professor für Virologie an der Universität Umeå. „Wenn es so ist, dass wir im letzten
Jahr oder in den letzten Jahren eine niedrige Übersterblichkeit aufgrund der milden Grippewelle hatten, kann dies zumindest teilweise erklären, warum Schweden eine relativ hohe Covid-19-Sterblichkeit hatte“, sagte er am Dienstag.
Kritik an Tegnells Grippetheorie kommt vor allem aus den Nachbarländern. „Soweit wir sehen können, ist es nicht die Grippewelle, die den großen Unterschied bei der Sterblichkeitsrate zwischen Schweden und Norwegen erklärt“, sagt etwa Frode Forland, Norwegens Direktor für Infektionskontrolle. Es sei „einfach,
das zu glauben“, tauge aber nicht als Erklärung. Die jüngste Grippewelle sei zwar in Norwegen tatsächlich stärker ausgefallen als in Schweden. „Doch wir können nicht erkennen, dass wir in den vergangenen Jahren besonders hohe Todesraten im Zusammenhang mit Influenza in Norwegen hatten.“Wenn Tegnells Theorie stimmen würde, hätte es in Norwegen ebenfalls viel mehr Opfer geben müssen. Aber das war nicht der Fall.
Mika Salminen, Direktor des finnischen Instituts für Gesundheit und Soziales, hält einen Zusammenhang zwischen Grippe- und Coronasterblichkeit für möglich. Er ist jedoch überzeugt, dass die entscheidende Ursache im finnischen Lockdown liegt.