Ein Meister findet den Klang des Lockdowns
Brad Mehldau schuf im April einen Zyklus von zwölf Klavierstücken. Das Tondokument aus der Coronazeit ist nun als Album zugänglich.
SALZBURG. Wie klingt ein Babyelefant? Brad Mehldau setzt eine Melodie in Gang, wie man sie aus dem Werk des Jazzpianisten kennt und schätzt. Doch die Oberstimme kontert die Stimmung aus, irrlichtert in freitonaler Manier durch den Raum. „Keeping Distance“ist der Versuch, die neue Normalität des Abstandhaltens in drei Minuten in Töne zu setzen. Aus der absurden Reibung unbeholfener Dissonanz ist Unsicherheit herauszuhören.
Brad Mehldau hat das Solo-Klavierstück im April 2020 komponiert, als er sich mit seiner Familie während des Corona-Lockdowns in seiner Wahlheimat Niederlande befand. Als „musikalische Schnappschüsse“bezeichnet der 50-Jährige den zwölfteiligen Zyklus, der in dieser Zeit entstanden ist. In einem Tonstudio in Amsterdam entstand womöglich eines der ersten großen künstlerischen Dokumente der pandemischen Ausnahmesituation.
Einen Sinn für Zeitgeist hat Brad Mehldau stets besessen. Seine Liveversion des Radiohead-Songs „Paranoid
Android“aus dem Jahr 2001, eine fesselnde polyphone Fantasie über knapp 20 Minuten, erreichte Hörer weit über die Jazzgemeinde hinaus. Auch „Smells Like Teen Spirit“von Nirvana oder „Teardrop“von Massive Attack versah der Pianist in seinen Solokonzerten mit ganz eigenen, bewegenden Stimmungen. Die Prägnanz guter Popmusik findet in Brad Mehldau einen idealen Übersetzer in die freiere Klangwelt des Jazz.
Mehldau besitzt auch eine Vorliebe für die deutschen Romantiker. Sein Corona-Album umfasst Miniaturen, die den „Charakterstücken“des 19. Jahrhunderts nachempfunden sind: Ein Einfall genügt, um eine musikalische Szene zu entwerfen. Im Stück „Remembering Before All This“trifft Brad Mehldau dann auch den retrospektiven Ton der „Kinderszenen“. Wie in Robert Schumanns Klavierzyklus ist der schnörkellose Tonfall eben kein
Kinderspiel, die Empfindungstiefe entsteht aus der Klarheit des Klangbilds.
Brad Mehldau gelingen gestochen scharfe Bilder, zeitgemäße Programmmusik. „Uncertainty“betitelt er ein Stück, das im Kleinen eine Weite öffnet wie frühere rhapsodische Werke. Und doch erzählt der Künstler von der Zukunftsangst, die längst seine ganze Branche erfasst hat. „In the Kitchen“wiederum kündet im ausgelassenen Boogie-Ton von innerfamiliären Freuden im Homeoffice. Wir befinden uns bereits im hoffnungsvollen letzten Drittel, das mit Titeln wie „Family Harmony“oder „Lullaby“den Entwicklungsbogen des Albums schlüssig abschließt.
Brad Mehldau findet zurück zur Zuversicht und reichert das Album mit Fantasien über Neil Youngs „Don’t Let It Bring You Down“oder Billy Joels „New York State of Mind“an – Wegbegleiter durch eine schwere Zeit.
Album: