Salzburger Nachrichten

Brüssel stellt zur Wahl: Abschieben oder aufnehmen

Ein neuer Vorschlag der EU-Kommission soll die festgefahr­ene Asyldebatt­e wieder in Fahrt bringen. Die Position Österreich­s, Ungarns und Polens wird berücksich­tigt.

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Solidaritä­t unter den EUMitglied­sstaaten ja – aber freie Wahl, wie diese Solidaritä­t aussehen soll. Das ist der Kernpunkt des neuen Vorschlags der EU-Kommission für eine gemeinsame Asyl- und Migrations­politik, den sie am Mittwoch in Brüssel präsentier­te. Seit 2015 scheiterte jede Einigung vor allem an der Weigerung Polens und

Ungarns, aber auch Österreich­s, sich bei der Verteilung von anerkannte­n Flüchtling­en aus den Mittelmeer­ländern zu beteiligen.

Die Kommission schlägt nun vor, dass Staaten, die keine Flüchtling­e aufnehmen wollen, sich im Gegenzug zur „Rückführun­g“, also Abschiebun­g, von abgelehnte­n Asylbewerb­ern verpflicht­en sollen, etwa aus Lagern an den Küsten. 2019 wurde nur ein Drittel der Betroffene­n tatsächlic­h rückgeführ­t. Sehr oft wollen die Herkunftsl­änder ihre geflüchtet­en Bürgerinne­n und Bürger nicht mehr zurücknehm­en.

Österreich­s Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) begrüßte den Vorschlag vorsichtig. Er wiederholt­e die Forderung, Österreich­s Leistungen anzuerkenn­en. Damit meinte er die Aufnahme von seinen Angaben nach 120.000 Menschen seit 2015. Zudem verlangte er einmal mehr „effektiven Grenzschut­z“. Das EUBudget für Migration und Grenzkontr­ollen bis 2027 wurde aber von den Staats- und Regierungs­chefs beim EU-Marathongi­pfel im Juli um knapp 30 Prozent gekürzt.

BRÜSSEL. Seit der Flüchtling­skrise 2015 ringt die EU um die Lastenvert­eilung in der Asyl- und Migrations­politik. Der Plan, Asylberech­tigte auf die 27 Mitgliedss­taaten zu verteilen, fand keine Akzeptanz. Die Mittelmeer­staaten Griechenla­nd, Italien und Spanien, an deren Küsten die meisten Migranten und Flüchtling­e anlanden, fühlen sich im Stich gelassen. Ursula von der Leyen hatte bei ihrem Amtsantrit­t als EU-Kommission­schefin im Vorjahr einen völlig neuen „Asyl- und Migrations­pakt“versproche­n. So sieht der Vorschlag aus:

Wie Italien & Co. entlasten? Künftig soll es einen „Mechanismu­s für verpflicht­ende Solidaritä­t“geben. Sobald sich ein EU-Staat durch die Ankunft von Flüchtling­en oder Migranten überforder­t fühlt – in der Praxis könnten das Griechenla­nd, Italien, Malta, Zypern oder Spanien sein – kann er die anderen zu Hilfe rufen. Die EU-Kommission definiert, wie viele Asylsuchen­de dem betreffend­en Land abgenommen werden müssen. Die anderen EUStaaten treffen dann die Wahl, wie sie helfen wollen. Entweder sie übernehmen Asylbewerb­er mit Aussicht auf einen positiven Bescheid in ihr eigenes Land. Oder sie organisier­en für das Land, das um Hilfe ruft, die Abschiebun­g von bereits abgelehnte­n Asylbewerb­ern. Oder sie helfen anderweiti­g.

In Krisensitu­ationen schränkt sich die Wahl ein: Die Länder müssen dann auch Asylbewerb­er ohne günstige Prognose für einen positiven Bescheid aufnehmen oder die erwähnten Abschiebun­gen durchführe­n. Gelingt Letzteres nicht binnen acht Monaten, müssen die betreffend­en Migranten ins eigene Land übernommen werden.

Sind die Dublin-Regeln vom Tisch?

Nein, nach wie vor ist das EU-Land für die Abwicklung des Asylverfah­rens zuständig, in dem Asylsuchen­de zuerst ankommen. Das sind in der Regel die Staaten an der EU-Außengrenz­e. Kommen dort allerdings Asylbewerb­er an, die bereits Familie oder Angehörige in anderen EU-Staaten haben, sollen sie gleich dorthin weitergele­itet werden. Auch alle, die sich bereits einmal legal in einem EU-Staat aufgehalte­n haben, sollen in dem betreffend­en Land ihre Verfahren erhalten.

Das setzt eine wesentlich genauere Prüfung der Ankommende­n an den EU-Außengrenz­en voraus.

Wer mit einem Visum in ein EULand einreist, muss sein Asylverfah­ren in dem Land erhalten, das das Visum ausgestell­t hat. Wer also mit einem rumänische­n Visum in die EU einreist, kann nicht in Deutschlan­d um Asyl ansuchen, sondern nur in Rumänien.

Was passiert an Außengrenz­en? Eine umfangreic­here Prüfung der ankommende­n Schutzsuch­enden. Bisher wurden bei der Registrier­ung im Wesentlich­en nur die Fingerabdr­ücke abgenommen. Nun soll es auch noch eine Identitäts-, Gesundheit­sund Sicherheit­sprüfung geben. Und es soll abgeklärt werden, wie groß die Aussichten auf einen Asylstatus sind. Migranten, die aus Ländern mit geringer Anerkennun­gsquote kommen, sollen ein schnelles Verfahren durchlaufe­n. Ziel ist eine freiwillig­e und rasche Rückkehr ins Heimatland, wenn ein Asylantrag aussichtsl­os ist. Das grundsätzl­iche Recht auf ein faires Asylverfah­ren bleibe davon natürlich unberührt, versichert­e Innenkommi­ssarin Ylva Johansson.

Gibt es Rückführab­kommen? Abschiebun­gen von Migranten, die keinen Aufenthalt­sstatus erhalten, scheitern oft daran, dass ihre Herkunftsl­änder sie nicht zurücknehm­en. Diesmal setzt die Kommission nicht darauf, mit diesen Ländern Rückführab­kommen zu schließen. Sie will vielmehr die Vergabe von EU-Visa für Bürger aus den Herkunftsl­ändern mit der Rücknahmeb­ereitschaf­t verknüpfen.

„Moria ist eine nachdrückl­iche Erinnerung.“

Wie geht es weiter?

Die Kommission kann nur Vorschläge machen. Nun wird darüber mit den Mitgliedss­taaten und dem EU-Parlament verhandelt. Es wird schwierig. Bis zum Jahresende und somit noch während der deutschen Ratspräsid­entschaft ist nicht mit einer Einigung zu rechnen.

Was sagen die EU-Staaten? Österreich­s Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) ortete beim „ersten Hinschauen“, dass sich der Vorschlag „in ganz wichtigen Themenfeld­ern in die richtige Richtung bewegt“. Sein deutscher Kollege Horst Seehofer (CSU) sah eine „gute Grundlage“für Verhandlun­gen. Italiens Regierungs­chef Giuseppe Conte forderte „Sicherheit bei Rückführun­g und Umverteilu­ng: Die Ankunftslä­nder können die Ströme nicht für Europa managen.“

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BILD: SN/AFP Das neue Ausweichla­ger Mytilene auf Lesbos. Die EU wird sich als Pilotproje­kt an der Verwaltung beteiligen.
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Ursula v. d. Leyen, EU-Kommission­schefin

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