Warten auf den Lockdown
Boris Johnson hat angesichts der rasant steigenden Infektionen neue Maßnahmen angekündigt. Doch es wird befürchtet, dass England einen landesweiten Stillstand nicht mehr abwenden kann.
Es ist erst wenige Wochen her, da rief die britische Regierung mit großem Getöse die Bevölkerung dazu auf, an den Arbeitsplatz und ins öffentliche Leben zurückzukehren. Der Schatzkanzler bezahlte gar Restaurantbesuche der Briten. Mit der Aktion „Eat out to help out“, „ausgehen, um zu helfen“, sollten die Menschen dazu animiert werden, wieder in Gaststätten, Pubs oder Cafés zu gehen. Die Hälfte der Rechnung wurde vom Finanzministerium übernommen.
Doch diese Freiheiten gehören erst einmal der Vergangenheit an. Und dafür gab Johnson ausgerechnet der Öffentlichkeit die Schuld. Es habe zu viele Verstöße gegen die Regeln gegeben, sagte er am Dienstagabend, als er sich mit einer TV-Ansprache an die Nation wandte. Ernsthaft, emotional und eindringlich appellierte er an seine Landsleute, sich an die Maßnahmen zu halten. Der Kampf gegen die Epidemie sei „die größte Krise, die die Welt in meiner Lebenszeit zu bewältigen hat“.
Der „Telegraph“titelte im Anschluss: „Der zweite Shutdown beginnt.“Im Königreich steigt seit Tagen die Zahl der Coronaneuinfektionen drastisch an. So vermeldeten die Behörden in England zuletzt täglich deutlich mehr als 4000 neue Fälle, am Mittwoch waren es sogar 4926 Neuinfektionen – Tendenz
steigend. Die Chefwissenschafter des Landes warnten, dass sich das Ausmaß der Pandemie etwa alle sieben Tage verdoppele. Wenn das so weitergehe, „könnte Großbritannien Mitte Oktober 49.000 Fälle pro Tag zählen“, so die medizinischen Regierungsberater. Sie schlugen Alarm. Und Johnson reagierte.
Der Premier forderte – in einer erneuten Kehrtwende der Regierung – die Menschen dazu auf, wieder im Homeoffice zu arbeiten, soweit dies möglich ist. Pubs und Restaurants
müssen ab Donnerstag spätestens um 22 Uhr schließen.
Es sei wahrscheinlich, dass die neuen Maßnahmen „für sechs Monate in Kraft bleiben“, sagte Johnson im Parlament. Das Land befinde sich an einem „gefährlichen Wendepunkt“. Gegebenenfalls könnte sogar das Militär hinzugezogen werden, um die Restriktionen durchzusetzen.
Bereits seit vergangener Woche gilt in England die Regel, dass sich lediglich sechs Menschen – auch Kleinkinder zählen dazu – auf einmal treffen dürfen. Die Obergrenze betrifft Versammlungen in den eigenen vier Wänden ebenso wie Familientreffen in Parks oder im heimischen Garten. Wer dagegen verstößt, dem drohen bis zu 200 Pfund, knapp 220 Euro, Strafe.
Kritik hagelte es bei Einführung der „Rule of Six“, weil die Regierung – neben Treffen zu beruflichen Zwecken, Hochzeiten oder Beerdigungen – eine Ausnahme für Jagdgruppen erließ. „Es ist illegal, wenn sieben Kinder Enten füttern, aber legal, wenn 30 Männer Enten schießen“, monierte ein Leser in der „Financial Times“. Es handelt sich um ein Hobby, das in Großbritannien vor allem mit Unterstützern der Tories verbunden wird.
Bris Johnson steht massiv unter Druck. Sein Krisenmanagement wird selbst in konservativen Kreisen scharf kritisiert. Das Testsystem steht kurz vor dem Kollaps. Viele Briten mit Coronasymptomen können sich nicht testen lassen, weil die Kapazitäten fehlen. Oder aber sie müssen tagelang auf ein Ergebnis warten. In großen Teilen Nordenglands gelten bereits wieder lokale Lockdowns.
Wiederholt sich die Geschichte? Die Befürchtung ist groß, dass dem Land ein erneuter Stillstand droht. Trotzdem erwartet kaum jemand, dass die Restriktionen so weit wie im Frühjahr gehen könnten. Das Königreich gilt mit fast 42.000 positiv auf das Coronavirus getesteten Toten als eines der am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Länder der Welt.