Zweite Welle erreicht Russland mit voller Wucht
90 Prozent der Spitalsbetten sind belegt. Der Kreml will trotzdem keinen neuen Corona-Lockdown.
MOSKAU. Anna Pawlowna hat es geschafft. Die 71-jährige Pensionistin lag zehn Tage mit hohem Fieber und Lungenentzündung in einem Moskauer Spital, es gelang den Ärzten aber, sie zu kurieren. Während dieser zehn Tage konnte Pawlowna beobachteten, wie schnell sich das Coronavirus wieder ausbreitet: „Als ich eingeliefert wurde, herrschte in der Station noch Leere, bei meiner Entlassung waren alle Betten voll, die ersten Patienten lagen schon im Flur.“
Die zweite Welle der Coronapandemie droht in Russland zum Tsunami zu werden. Nach Angaben der Behörden stieg die Zahl der Neuinfektionen am Mittwoch auf die Rekordhöhe von 14.231, deutlich über der Höchstmarke der ersten Welle von knapp 11.700 am 11. Mai. Laut dem staatlichen Epidemiologen Alexander Gorjelow werden die Zahlen noch 20 Tagen ansteigen, ein wesentlicher Rückgang der Infektionen ist aber erst im Februar oder März zu erwarten.
Offiziell starben am Mittwoch 239 Russen an Covid-19, mehr waren es nur am Vortag, als 244 Patienten dem Virus erlagen. Viele Statistiker und Mediziner behaupten, die tatsächlichen Zahlen seien mindestens doppelt so hoch.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind 90 Prozent der Krankenhausbetten belegt. Anastasia Wassiljewa, Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Aljans Wratschej, twittert, tatsächlich seien es schon 200 Prozent. Ein Arzt aus der Region Krasnodar sagte der Internetzeitung meduza.io, jeder Kollege in seiner Abteilung müsse statt der Norm von 20 Patienten 45 Kranke behandeln. „Die Intensivstation ist voll, die Leichenhalle auch.“ Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin äußerte angesichts der täglich mehr als 1200 hospitalisierten und fast 5000 neuen Covid-19Patienten in der Hauptstadt „gewaltige Besorgnis“. Aber während im Frühjahr in Moskau und anderen russischen Regionen ein strenger Lockdown verhängt wurde, begnügen sich die Behörden bisher mit Einzelmaßnahmen. Der Kreml ernannte Ex-Premierminister Dmitrij Medwedew zum Leiter einer neuen Kommission zur Bekämpfung von Viruserkrankungen. Der schon existierende operative Stab zum Kampf gegen Covid-19 rief die Russen auf, keine öffentlichen Plätze aufzusuchen. Und die Herbstferien der Moskauer Schulen wurden um eine Woche verlängert, danach sollen alle Schüler ab der 6. Klasse Fernunterricht bekommen.
Bars, Fitnessstudios und Kirchen bleiben geöffnet und werden gut besucht. In der Moskauer U-Bahn trägt auch in Stoßzeiten kaum die Hälfte der Passagiere die eigentlich vorgeschriebene Maske. Aber die Staatsmacht will offenbar einen neuen Lockdown und dessen wirtschaftlichen Folgen vermeiden.
Ihre Medien berichten hoffnungsvoll von den zwei inzwischen in Russland entwickelten Coronaimpfstoffen, die allerdings die obligatorischen Massentests noch nicht durchlaufen haben. Industrieminister Denis Manturow kündigt schon an, dass im Dezember die ersten 1,5 Millionen Impfdosen auf den Markt gebracht würden.