China setzt auf die „Corona-Diplomatie“
China hat kaum noch Coronafälle. Deswegen müssen chinesische Impfstoffe im Ausland getestet werden – inklusive politischer Folgen.
PEKING. Es ist nur eine Zahl. Aber eine, die wohl sinnbildhaft für das Sicherheitsempfinden einer ganzen Nation steht. Vor wenigen Tagen verkündete der kanadische Kinobetreiber IMAX, dass die Kartenverkäufe am ersten Wochenende der „goldenen Woche“– Chinas großer Urlaubsphase nach dem 1. Oktober – im Vergleich zu 2019 um 25 Prozent gestiegen sind. Und das, obwohl 25 Prozent weniger Sitzplätze angeboten worden waren.
Der chinesische Staat und seine Bevölkerung strahlen derzeit die Zuversicht aus, dass Corona vorbei ist. Auch deshalb richtet sich das Augenmerk der chinesischen Staatsführung mittlerweile auf etwas anderes: Wenn Peking Washington im Rennen um einen Impfstoff überholen würde, wäre das ein Paukenschlag. Und tatsächlich berichtet das Magazin „New Yorker“, dass Peking noch im Oktober einen Impfstoff zulassen werde.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es aktuell mehr als 170 Unternehmen, die an einem Impfstoff arbeiten. Unter denen, die derzeit Phase III, die entscheidende Periode der klinischen Tests, durchlaufen, stammen vier aus China. Zählt man das deutsche Unternehmen Biontech dazu, sind es sogar fünf. Denn das Unternehmen aus Mainz hat sich für die Entwicklung eines Impfstoffs mit dem chinesischen Unternehmen Fosun zusammengetan.
Doch obwohl noch keines der chinesischen Unternehmen die klinischen Tests abgeschlossen hat, wird in China schon geimpft. Das gab die Nationale Gesundheitskommission im September bekannt. Sie rechtfertigte ihre Entscheidung mit Notgebrauchsregeln der WHO.
Wie viele Chinesen bereits geimpft sind, ließ die Kommission offen. Experten gehen von mehreren Hunderttausend Impfungen aus. Das Unternehmen Sinovac teilte etwa mit, rund 90 Prozent seiner Mitarbeiter geimpft zu haben – inklusive derer Familien. Auch die chinesische Volksbefreiungsarmee impft ihre Soldaten mit einem nicht zugelassenen Impfstoff.
Der Notgebrauch gilt unter Experten nicht nur aus gesundheitlicher Sicht als riskant. Er wirft auch ethische Fragen auf. Denn nach Medienberichten herrscht in chinesischen Staatsbetrieben ein gewisser Impfdruck. Ein Nein kann demnach zu beruflichen Nachteilen führen.
Experten vermuten, dass die Volksrepublik mit dieser Praxis nicht nur ihre Impfstoffe, sondern auch die Impfbereitschaft ihrer Bevölkerung testen will. Russland etwa präsentierte der Welt im August den Covid-Impfstoff „Sputnik V“. Das Vakzin war zugelassen worden, obwohl es noch nicht alle klinischen Tests durchlaufen hatte. Ein propagandistischer Schachzug, lautete das Urteil von Experten. Doch der Kniff scheint nach hinten loszugehen. Denn laut Umfragen lehnen mehr als 70 Prozent der Russen eine Covid-19-Impfung ab.
Dass das Infektionsrisiko in China derzeit praktisch bei null liegt, ist für die Bevölkerung gut. Doch für die Entwicklung eines Impfstoffs ist es schlecht. So lässt sich nicht herausfinden, ob ein Impfstoff tatsächlich vor einer Ansteckung schützt. Die chinesischen Impfstoffentwickler testen ihre Vakzine deswegen in mehr als einem Dutzend anderer Länder, darunter in Peru, Argentinien, Brasilien, Bahrain, Marokko, Saudi-Arabien, Indonesien, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).
Im Gegenzug verspricht Peking diesen Ländern bevorzugten Zugang zu einem Impfstoff. Experten haben für dieses Gebaren den Namen „Corona-Diplomatie“gefunden – in Anlehnung an die „Masken-Diplomatie“, mit der sich China im Frühjahr als Retter in der Not inszenierte, indem es Masken und Krankenhauspersonal in alle Welt exportierte. Tatsächlich führt die chinesische „Corona-Diplomatie“zu neuen Allianzen. Als erstes Land nach der Volksrepublik führten die VAE einen chinesischen Impfstoff für den Notgebrauch ein. Auch mehreren Staaten in Afrika und Asien hat Peking bereits bevorzugten Zugang zu einem Impfstoff zugesagt.
Parallel engagiert sich China aber auch auf globaler Bühne. Vor wenigen Tagen schloss sich das Land der Covax-Initiative an. Diese will unter Federführung der WHO die Entwicklung und Verbreitung bezahlbarer Impfstoffe fördern. Chinas Engagement steht in scharfem Kontrast zu dem Isolationismus der USA. Washington beteiligt sich nicht an der Initiative. Im Juli traten die USA gar aus der WHO aus.
Sollte China als erstes Land in großem Maßstab einen Impfstoff herstellen, werde das symbolisches Gewicht haben, sagt Jacob Mardell. Der Experte forscht am Berliner Thinktank Merics. „Allerdings ist es für Peking nicht ohne Risiken, sich in einer PostCorona-Welt als globaler Retter zu präsentieren“, fügt er hinzu. Nicht nur könne es mit dem Impfstoff Qualitätsprobleme geben. Das Land stehe nach der Pandemie auch ökonomisch nicht gut da. „Aufgrund innenpolitischer Zwänge“, sagt Mardell, „ist China nicht mehr in der Lage, als wirtschaftlicher Retter zu fungieren, wie es das nach der Finanzkrise 2008 tat.“