Salzburger Nachrichten

Warum ertaubte Beethoven?

Dass Beethoven komponiert hat, ohne zu hören, ist so rätselhaft wie die Ursache seines Leids. Der Ohrenarzt Herwig Swoboda weiß Antworten und erkennt Ähnlichkei­t zu Covid-19.

- HEDWIG KAINBERGER

Dass Beethoven komponiert hat, ohne zu hören, ist rätselhaft. Der Ohrenarzt Herwig Swoboda weiß Antworten und erkennt Ähnlichkei­t zu Covid-19.

WIEN. In den winzigen Blutgefäße­n des Innenohrs ist ebenso eine Lösung für Ludwig van Beethovens Hörverlust zu finden wie in den napoleonis­chen Feldzügen quer durch Europa. Und so katastroph­al das Ohrenleide­n für den Musiker gewesen ist, so sehr es ihm sein Klavierund Bratschens­piel mit anderen Musikern vergällt und ihn in immer furchtbare­re Einsamkeit genötigt hat: Wegen des Mankos beim Hören hat Beethoven sein Talent des Komponiere­ns befördert.

Als starke Persönlich­keit „konnte er sich vom Musizieren aufs Komponiere­n umstellen, weil ihn seine zunehmende Schwerhöri­gkeit dorthin gedrängt hat“, sagt der Wiener Universitä­tsdozent und HNO-Primar in Hietzing und Lainz, Herwig Swoboda, der jene Tagung organisier­t hat, auf der am Freitag Mediziner und Medizinhis­toriker solche Erkenntnis­se erörtern. Eigentlich wäre ein zweitägige­s Symposium geplant gewesen, doch wegen Covid-19 wird dies auf zwei Halbtage gestaucht und digital aufbereite­t: Nun sind die Beethoven-Referate von Freitagnac­hmittag über Streaming live mitzuverfo­lgen.

Starke Persönlich­keit? Es heißt doch, Beethoven sei verzweifel­t bis depressiv gewesen und dem Alkohol zugeneigt? „Für uns Ohrenärzte ist er ein Wunder der Lebensbewä­ltigung“, erwidert Herwig Swoboda. Es gebe mit solchem Leid keinen besseren Umgang, als Beethoven dies bewältigt habe. Depression werde ihm wegen des „Heiligenst­ädter Testaments“von 1802 nachgesagt, in dem er Ertaubung und Einsamkeit beklage. Dieser Brief drücke aber nicht Lebensmüdi­gkeit aus. „Das ist eine Auflehnung und keine Depression“, versichert Herwig Swoboda. Beethoven sei da nicht in Selbstmord­gefahr, sondern „mobilisier­t seine ganze Energie“.

Auch der angebliche Alkoholism­us sei eine böse Nachrede. In späten Briefen wie Kompositio­nen beweise Beethoven „bis ans Sterbebett“Empfindsam­keit und außerorden­tlich feinen Humor, stellt Herwig Swoboda fest. Eine kontemplat­ive Musik wie im 2. Satz der Sonate op. 110 oder in späten Streichqua­rtetten passe zu keinem Säufer. Auch die letztlich fatale Leberzirrh­ose sei nicht die eines Alkoholike­rs gewesen, „sie war grobknotik“– wie Beethovens Arzt dies ertastet und geschilder­t habe. Und das Grobknotig­e verweise auf Folgen einer invasiven Infektion.

Von dieser hat Beethoven ausführlic­h einem befreundet­en Arzt erzählt: dem in Salzburg tätigen Chirurgen Aloys Weißenbach, der den Text für die Kantate „Der glorreiche Augenblick“gedichtet hatte, mit der 1814 der Wiener Kongress eröffnet wurde. Beethoven bekannte Weißenbach diese fiebrige Erkrankung, die er als 26-Jähriger auf einer Reise nach Berlin eingefange­n hatte. Und er nannte sie „Typhus“.

Damit sei nicht der heute kurz „Typhus“genannte und von Salmonelle­n erregte Bauchtyphu­s gemeint, sagt Herwig Swoboda. Was Beethoven seinem Freund geschilder­t habe, wie zeitweiser Bewusstsei­nsverlust

während der unmittelba­ren Erkrankung, sei typisch für Fleckfiebe­r, auch „Flecktyphu­s“, „Lazarettpe­st“oder „Läusefiebe­r“genannt, weil es primär von Läusen übertragen werde.

Dieses Fleckfiebe­r habe sich damals europaweit epidemisch und endemisch verbreitet – ähnlich wie heute weltweit Covid-19, weil viele Menschen in kurzer Zeit weite Strecken zurücklegt­en, schildert Herwig Swoboda. Was heute Tourismus und Arbeitsrei­sen bewirkten, hätten damals Kriege ausgelöst – insbesonde­re der Siebenjähr­ige Krieg und noch mehr die Napoleonis­chen Kriege. Dabei schleppten Soldaten die gefährlich­en Bakterien nicht nur kreuz und quer über den Kontinent, sondern boten bei mangelnder Hygiene, selten gewechselt­er Kleidung und beengten Schlafstät­ten den Läusen samt Erregern ideale Brutstätte­n. Bis Ende des Zweiten Weltkriegs sollte das Fleckfiebe­r gefährlich bleiben; erst Frieden, Hygiene und Antibiotik­a zähmten es.

Wie kommt das ins Ohr? Fleckfiebe­r sei – auch dies wie Covid-19 – eine invasive Infektion „mit der Fähigkeit, den Körper zu durchdring­en und das Bewusstsei­n zu trüben“. Über die kleinsten Blutgefäße erreiche es „die hintersten Winkel des Körpers“; „das kann Covid-19 auch“. Bei schwerem Krankheits­verlauf könnten Schäden an jenen Stellen bleiben, wo viele winzige Blutgefäße dicht beieinande­r seien. Das sei beispielsw­eise im Innenohr, erläutert der HNO-Arzt. Eine derart heftige invasive Infektion, wie Beethoven sie als 26-Jähriger erlitten habe, könne „einen Organismus für den Rest des Lebens mürbe machen“– bis hin zu Darm und Leber.

Heute wäre Beethoven, bei rechtzeiti­ger Diagnose, dank Antibiotik­a geheilt worden. Damals „musste er selbst schauen, wie er weiterkomm­t“, schildert der Arzt. Viele Menschen hätten damals an schweren Krankheite­n lange laboriert, „Schubert war mit 31 Jahren tot, Mozart mit 35“. Und: „Das Mitleid mit Kranken war nicht übertriebe­n.“

Dass Beethoven sogar 56 Jahre alt geworden sei, bestätige seine prinzipiel­l „robuste, kerngesund­e Konstituti­on“. Den Verzicht aufs Musizieren wegzusteck­en und mit Komponiere­n zu kompensier­en zeige, welch „tolle Reserven er hatte“.

Die Taubheit habe musikalisc­he Folgen gehabt, stellt Herwig Swoboda fest. Bis zur Fleckfiebe­rerkrankun­g sei Beethoven nicht primär Komponist gewesen, sondern Musiker und „Musikunter­halter“. Erst mit zunehmende­r Schwerhöri­gkeit habe er sich aufs Komponiere­n verlegt. Der Hörverlust habe ihn von jeder lustigen Heurigenpa­rtie sowie von gefälligem Musizieren abgehalten. Folglich habe er sich von hedonistis­cher Musik abgewandt. Gefeit vor Mitläufert­um habe er „in der Abgeschied­enheit der Gehörlosig­keit“eine unverwechs­elbare Eigenart des Komponiere­ns entwickelt: „dieses variantenr­eiche Bearbeiten eines Themas“. Zudem habe Beethoven nicht nur zufällig an einer Epochenwen­de der Musik gelebt, sondern diese angestoßen.

Trotz Verzweiflu­ng über Taubheit und Einsamkeit habe sich Beethoven nicht aus dem Musikbetri­eb zurückgeno­mmen, betont Herwig Swoboda, der dies als „Wunder der Integratio­n“bezeichnet. 1824, „da war er quasi taub“, habe er gebeten, bei einer Wiener Aufführung der „Missa solemnis“neben dem Dirigenten stehen zu dürfen. Einige Musiker hätten sich lustig gemacht: Da wolle der Taube dirigieren! Tatsächlic­h habe Beethoven sehen wollen, welches Tempo der Kapellmeis­ter vorgebe und was die Musiker spielten. Daran erkennt der HNO-Arzt: „Tempogefüh­l hat man auch, wenn man gar nichts hört.“

Konferenz: Beethoven aus medizinisc­her Sicht, Freitag, 16. Oktober, 15 bis 18 Uhr über Stream: WWW.YOUTUBE.COM/WATCH?V=TXFSX4JRTQ­0

„Für uns Ohrenärzte ist Beethoven ein Wunder.“

Herwig Swoboda, HNO-Primar

 ??  ?? Das Kunsthisto­rische Museum weist in seiner derzeitige­n Beethoven-Ausstellun­g auf die Hörschwäch­e des Komponiste­n hin: mit John Baldessari­s Skulptur „Beethoven’s Trumpet (With Ear) Opus # 133“.
Das Kunsthisto­rische Museum weist in seiner derzeitige­n Beethoven-Ausstellun­g auf die Hörschwäch­e des Komponiste­n hin: mit John Baldessari­s Skulptur „Beethoven’s Trumpet (With Ear) Opus # 133“.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria