Wer ist heiliger?
Die Welt blickt gespannt in die USA: Wer wird diese so entscheidende Wahl gewinnen? Donald Trump setzt auf die konservativen, Joe Biden auf die liberalen Gläubigen.
Vieles hatte darauf hingedeutet, dass der diesjährige US-Präsidentschaftswahlkampf einzigartig wird: die Coronakrise mit bisher weit über 200.000 Toten in den Vereinigten Staaten, die horrenden Arbeitslosenzahlen, die landesweiten „Black Lives Matter“-Proteste und schließlich die Coronaerkrankung von Donald Trump ließen erwarten, dass die religiösen Themen, die seit Jahrzehnten jedes Rennen um das Weiße Haus begleitet haben, heuer in den Hintergrund treten könnten.
Vergeblich suchte man lange Zeit die mahnenden Stimmen aus dem evangelikalen Lager, fast unbeeindruckt reagierten die Medien auf Trumps Marsch zur „St. John’s Episcopal Church“sowie auf seinen Besuch des katholischen Nationalheiligtums „St. John Paul II“. Beinahe niemand nahm Notiz davon, dass mit Joe Biden der erst zweite Katholik nach John F. Kennedy zum US-Präsidenten gewählt werden könnte.
Doch dann kamen im August die Nominierungsparteitage der beiden Großparteien und mit ihnen schwappten religiöse Themenstellungen wieder an die Oberfläche des politischen Diskurses. Bereits Wochen vor dem unerwarteten Tod der US-amerikanischen Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg stimmten plötzlich beide Kandidaten in die jahrzehntealte Auseinandersetzung um Abtreibung und Homosexualität ein. So ließen die Demokraten den jesuitischen Priester Fr. James Martin, einen Vorreiter der LGTBI-Theologie in den USA, auf ihrem Parteitag sprechen. Beim republikanischen Parteitag traten dagegen mit Kardinal Timothy Dolan aus New York und der Ordensfrau Sr. Dede Byrne zwei laute Gegenstimmen zu einer liberalen Familienpolitik auf.
Besonders die beiden religiösen Stimmen auf der republikanischen Konferenz machten die Strategie deutlich, die in den finalen Wochen vor der Wahl die konservative Linie bestimmen sollten: Sowohl Dolan als auch Byrne sollten eine unmissverständliche Botschaft an die katholischen Wählergruppen in den USA senden: Dass Joe Biden mit seiner liberalen Haltung zur Abtreibung aus katholischer Sicht nicht wählbar sei.
Bei diesem Thema geht der Riss freilich mitten durch die katholische Kirche in den USA. Der 2017 von Papst Franziskus zum Kardinal ernannte Joseph William Tobin, der auch dem Vatikan-Wirtschaftsrat angehört, hatte am Dienstag in einer Online-Podiumsdiskussion gesagt, er sehe für Katholiken kein Problem, „mit gutem Gewissen für Herrn Biden zu stimmen“. Keine der politischen Parteien vertrete die katholische Lehre vollständig. Ihm selbst falle es moralisch schwer, jemanden wie Donald Trump zu wählen.
Tobins Äußerung steht im Kontrast zur Haltung vieler konservativer Bischöfe, die versuchen, das Thema Abtreibung zu einem Ausschlusskriterium zu machen. Katholik Biden ist nach eigener Aussage persönlich gegen Abtreibungen, unterstützt aber den straffreien Zugang von Frauen zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen.
Joseph Strickland, Bischof der US-Diözese Tyler in Texas, begrüßte das Video eines Priesters, der Katholiken warnte, für Joe Biden und die Demokraten zu stimmen: „Man kann nicht katholisch und ein Demokrat sein“, hatte der Priester in dem Video gesagt und das Wahlprogramm der Demokraten als „sündhaft“bezeichnet.
Was aus europäischer Perspektive durchaus befremdet, hat in den USA Tradition. Die Verzahnung des politischen und religiösen Diskurses ist seit Jahrzehnten Programm, die damit verbundenen persönlichen Angriffe und moralische Kritik sind bewusst intendiert. Das spirituelle Bekenntnis des Gegenübers dient allen Fraktionen als Zielscheibe für politische Angriffe – an diesem Punkt soll die Unglaubwürdigkeit des gegnerischen Kandidaten empfindlich getroffen werden. Dabei wiegt in diesem Jahr besonders schwer, dass die katholischen Wählergruppen mit mehr als 21 Prozent immer noch einen der nominell größten Bevölkerungsteile ausmachen, den beide Kandidaten gern auf ihrer Seite hätten. Joe Bidens persönliches Bekenntnis als Katholik ist damit nicht einfach eine private Angelegenheit, sondern es könnte sich als Triebfeder zahlreicher Unterstützerinnen, aber auch als Bumerang vonseiten konservativer Glaubenskreise entpuppen. Bidens Glaube könnte beides sein: Politische Chance sowie ein gefürchtetes Damoklesschwert, das wenige Wochen vor der Wahl über seinem Haupt schwebt.
Dessen ist sich Biden wohl bewusst, gleichzeitig aber kann seine Devise nur „Flucht nach vorn“heißen. So ließ sich der demokratische Spitzenkandidat nach den „Black Lives Matter“-Protesten in afroamerikanisch geprägten „Black Theology“-Gemeinden ablichten, um seine Unterstützung durch diese Gruppen sichtbar zu machen. Wie gern aber auch Trump die religiöse Karte im Wahlkampf spielt, hat er in der Vergangenheit bereits bewiesen: sein bewusstes Posieren mit der Bibel, das Brüsten mit seiner anscheinend harten Linie gegenüber Abtreibungen sowie die öffentliche Inszenierung mit Priestern und Predigern aus zahlreichen unterschiedlichen Konfessionen waren in den vergangenen Jahren immer wieder Part seiner Taktik.
Dass diese Symbolpolitik Trumps, verbunden mit dessen energischer Pro-Israel-Politik, besonders traditionalistische Gruppen anspricht, könnte ihm ebenso in die Hände spielen wie der Umstand, dass nach dem Tod von Ginsburg nun bereits der dritte von neun Richterposten des Obersten Gerichts während seiner Amtszeit zu besetzen wäre. Prompt hat Trump die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und die Abtreibungsgegnerin Amy Coney Barrett als neue Richterin am Supreme Court vorgeschlagen. Der Tod der liberalen Frauenrechtlerin Ginsburg sowie die Tatsache, dass Trump bei vielen konservativen Gruppierungen mit seiner restriktiven Richterbesetzung punkten könnte, dürfte noch einmal Schärfe in den sonst sehr ausgeglichenen Wahlkampf bringen.
Die Präsidentschaft Donald Trumps hat freilich zahlreiche Gräben gerissen – nicht nur international, sondern auch innerhalb der Vereinigten Staaten. Anders als vor vier Jahren kann sich Trump keinesfalls der breiten Unterstützung freikirchlicher Kreise sicher sein. Zu viele Menschen aus diesen Schichten haben unter seiner Politik sowie unter den Folgen der Coronapandemie gelitten. So gelten früher tief republikanisch geprägte Bundesstaaten in diesem Jahr als ausgeglichene „Battleground States“(umkämpfte Staaten), etwa Texas, Georgia oder North bzw. South Carolina. Joe Biden liegt laut mehreren Umfragen in einigen „Swing States“wie Ohio oder Florida sogar schon mehrere Prozentpunkte vor dem umstrittenen Amtsinhaber.
Sowohl Biden als auch Trump werden in den kommenden Wochen versuchen, die noch wichtigen Prozentpunkte auf ihre Seite zu ziehen – und beide haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie in diesem Kampf nicht davor zurückschrecken, die „religiöse Karte“auszuspielen.
Andreas G. Weiß ist Theologe und stellvertretender Direktor des Katholischen Bildungswerks Salzburg. 2019 erschien sein Buch „Trump – Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Was wir nie für möglich hielten, hat uns schon verändert“(213 S., geb., 24,70 Euro, Verlag Patmos).