Salzburger Nachrichten

Chile feiert seine Wiedergebu­rt

Die Bevölkerun­g schafft die Verfassung von Pinochet ab.

- KLAUS EHRINGFELD

SANTIAGO DE CHILE. Als die Nacht über diesen historisch­en Tag in Santiago hereingebr­ochen war, leuchtete am Funkturm nahe der Plaza Italia ein Wort auf: „Renace“. Wiedergebu­rt. Ein Künstlerko­llektiv hatte es auf den Turm projiziert, um zu beschreibe­n, was dieser Tage in Chile passiert. Das als „neoliberal­es Paradies“gerühmte und gescholten­e südamerika­nische Land hat sich am Sonntag mit überwältig­ender Mehrheit dafür entschiede­n, sein Fundament neu zu legen.

Mit mehr als 78 Prozent der Stimmen sprachen sich die Menschen dafür aus, die 40 Jahre alte Verfassung aus Diktaturze­iten abzuschaff­en und ein komplett neues Grundgeset­z zu schreiben. Die aktuelle Verfassung war 1980 von den Juristen des Gewaltherr­schers Augusto Pinochet entworfen worden. Ein Kodex, der den Unternehme­n alle Rechte einräumt, aber der Bevölkerun­g faktisch sämtliche sozialen und fundamenta­len Rechte vorenthält. Eine Magna Charta, die vor allem die Interessen der Unternehme­r und des Militärs schützt, politische­n Alternativ­en kaum Chancen lässt und in der die Ureinwohne­r keinen Platz finden.

Nun soll die Verfassung von Grund auf neu ausgehande­lt werden. Bei der Volksbefra­gung sprachen sich die Chilenen zudem mit klarer Mehrheit von über 79 Prozent dafür aus, dass der Text von einer Versammlun­g entworfen werden soll, deren Mitglieder ausschließ­lich per Wahl bestimmt werden. Dabei ist ein weltweites Novum, dass diese verfassung­gebende Versammlun­g paritätisc­h zwischen Männern und Frauen besetzt werden muss.

Trotz einiger Reformen habe die aktuelle Verfassung niemals den „Geburtsfeh­ler“überwunden, dass sie in Diktaturze­iten und somit in einem Klima von „Angst, Gewalt und Terror“verfasst worden sei, sagt der Politologe Gabriel Negretto. Die neue Magna Charta müsse daher in einem „friedliche­n Umfeld mit einer breiten Unterstütz­ung der Bevölkerun­g geschaffen werden“, unterstrei­cht der Experte. Zudem müsse sie moderner werden und auf die Bedürfniss­e der Menschen und nicht nur der Eliten eingehen.

Bereits vor Schließung der Wahllokale um 20 Uhr Ortszeit strömten am Sonntag Zehntausen­de Menschen zur Plaza Italia, dem Epizentrum der sozialen Proteste des vergangene­n Jahrs in Santiago. Sie feierten weitgehend friedlich und fröhlich. „Wir haben so lange für diesen Tag gekämpft!“, sagt Marylinn Lazo (54) im Gespräch mit den „Salzburger Nachrichte­n“. „Hier in Chile ist alles auf Kommerz und Gewinn ausgericht­et, wir sind Sklaven des Systems“, unterstrei­cht die Hausfrau, die mit ihrem Mann von Anfang an zu den Protestver­anstaltung­en gegangen ist. „Bildung, Gesundheit und Altersvers­orgung sind teuer und stürzen uns Chilenen tief in Schulden.“

Das Recht auf bezahlbare Bildung, erschwingl­iche Gesundheit­sversorgun­g und entprivati­sierte Altersvers­orgung war eine fundamenta­le Forderung, für die weite Teile der Chilenen mehr als ein Jahr mit harten Bandagen und gegen alle Widerständ­e zunächst auf der Straße und nach Ausbruch der Coronapand­emie in virtuellen Foren und sozialen Netzwerken gestritten haben. Dabei trotzte die Bevölkerun­g der Regierung des rechten Präsidente­n Sebastián Piñera das Plebiszit ab.

Piñeras monatelang­e Weigerung, die Forderunge­n der Demonstran­ten anzuerkenn­en und Zugeständn­isse zu machen, brachte ihm in seiner Zustimmung historisch­e Tiefstände ein. Die Wahlbeteil­igung lag nach Angaben der Wahlbehörd­e Servel über 50 Prozent und war damit die höchste seit der Rückkehr zur Demokratie in Chile.

„Geburtsfeh­ler“der Verfassung korrigiere­n

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