Salzburger Nachrichten

Schlingens­ief steht barfuß im Schnee und trompetet

- MAGDALENA MIEDL

Die Drastik war sein Werkzeug

WIEN. Als Christoph Schlingens­ief zum zweiten Mal an der Münchner Filmakadem­ie abgelehnt wird, ist seine Krise tief. Er filmt sich dabei, wie er auf dem Marktplatz einer Kleinstadt steht und etwas schief die deutsche Nationalhy­mne trompetet, barfuß im Schnee. Wie soll einer sonst reagieren, der weiß, dass er Filme machen wird, und der es nicht dürfen soll?

Vor ein paar Tagen wäre Christoph Schlingens­ief sechzig Jahre alt geworden, im August 2010 ist er 49jährig an Krebs verstorben. Diese Jahrestage nahm die Viennale (bis 1. November) zum Anlass, dem Aktioniste­n, Theater- und Opernregis­seur und „Selbstprov­okateur“, der sich 2006 als „vor allem Filmemache­r“bezeichnet­e, eine Monografie zu widmen. Das Programm reicht von „Mein 1. Film“des Achtjährig­en über atemberaub­ende Trashfilmv­ariationen bis zu Kino der Handgreifl­ichkeit mit „Die 120 Tage von Bottrop“, einer Filmografi­e mit Kollaborat­euren wie Helge Schneider, Sophie Rois, Frank Castorf, Tilda Swinton, Udo Kier, Oskar Roehler, Kitten Natividad und anderen.

Den Rahmen bietet Bettina Böhlers Kompilatio­nsfilm „Schlingens­ief. Ins Schweigen hineinschr­eien“, der am 5. November Kinostart hat. Böhler beginnt am Anfang und endet am Schluss. Das funktionie­rt so gut, weil Schlingens­ief sein Leben mitdokumen­tiert hat. Da er, das langersehn­te Kind, eigentlich fünf Geschwiste­r hätte haben sollen, die den Eltern jedoch nicht gelungen sind, hat er das alles versucht zu erfüllen – so seine eigene These.

Zwischen Filmaussch­nitten und Dokumentat­ionen seiner Arbeiten und Aktionen lässt Bettina Böhler ihn selbst reden. Da sind keine „Schön war’s“-Wortspende­n irgendwelc­her Wegbegleit­er, die vorkauen, wie das Publikum ihn zu finden hat. Er selbst ordnet ein und ordnet durch und wirft durcheinan­der. Schlingens­ief sagt am Anfang, wenn er auf einem großen Blatt Papier ein Diagramm seiner geplanten Laufbahn aufzeichne­t: „Bis 2030, 2040, hoffentlic­h 2050 als Ideal.“Dass das nicht eingetroff­en ist, tut immer noch weh. Vor allem wirft der Film die Frage auf: Was würde Schlingens­ief mit diesem 2020 anfangen? Was hätte der in Lagern auf den griechisch­en Inseln gemacht? Was würde er zu Trump-Gebrüll sagen, zu Brexit-Irrwitz, zu Fake News und Dauerironi­sierung, diesem Zynismus, der die Gegenwart prägt? Wie unzynisch Schlingens­ief war, macht der Film deutlich. Die Drastik war sein Werkzeug, nicht der Inhalt. Deutlich wird bei der Viennale zudem, wie hellsichti­g seine Arbeiten waren, was Bornierthe­it, Rassismus und unaufgearb­eiteten Nationalso­zialismus betrifft – im glücklich wiedervere­inten Deutschlan­d, in dem in „Das deutsche Kettensäge­massaker“Westdeutsc­he die ostdeutsch­en Brüder und Schwestern zu Wurst verarbeite­n.

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Film-Still aus „Krise“von und mit Christoph Schlingens­ief, 2005.

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