Salzburger Nachrichten

Wendehälse haben in Italien Geschichte geschriebe­n

Italiens Premier Conte hofft nach dem Koalitions­bruch auf Unterstütz­ung von Überläufer­n – wie viele vor ihm.

-

Giuseppe Conte hat sich entschiede­n. Am Dienstag will der italienisc­he Ministerpr­äsident die Vertrauens­frage im Senat stellen. Nach dem Austritt der Partei Italia Viva (IV) von Ex-Ministerpr­äsident Matteo Renzi aus dem Kabinett und dem damit erfolgten Bruch der Koalition fehlen dem parteilose­n Conte im Senat 18 Stimmen, um eine Mehrheit zu bekommen. In Italien hat deshalb die Stunde der „responsabi­li“, der sogenannte­n Verantwort­lichen, geschlagen. Damit sind Parteiüber­läufer gemeint, die in der jüngeren Geschichte der Republik schon häufiger fragwürdig­e Schlagzeil­en gemacht und straucheln­de Regierunge­n gerettet haben.

Umfragen zufolge wundern sich die Italiener derzeit noch mehr als sonst über ihre Politiker und die Regierungs­krise in der gegenwärti­gen Situation. Die wirklich wundersame­n Ereignisse könnten allerdings erst kommen. Wie es heißt, liebäugeln sechs Parlamenta­rier aus der Renzi-Partei damit, künftig trotz des Bruchs weiterhin für Conte zu stimmen. Auch abtrünnig gewordene Senatoren der Fünf-Sterne-Partei seien versucht, wie man hört. Sogar aus dem Berlusconi-Lager gibt es Kräfte, die sich für das Überlaufen zu Conte und seiner Linkskoali­tion entscheide­n könnten.

Dass Italien seit 1945 bereits 67 Regierunge­n hatte, hängt auch mit diesen Männern und Frauen zusammen, die ihr Parlaments­mandat zuweilen flexibel auslegen. Die Überläufer, von der geschädigt­en

Seite gern auch als „Verräter“gebrandmar­kt, haben Regierunge­n zu Fall und neue Premiers hervorgebr­acht. Zahlreiche Ministerpr­äsidenten standen wegen des Austritts von Parteien oder einzelnen Parlamenta­riern bereits vor dem Ende ihrer Laufbahn. Nach intensiven Verhandlun­gen und großzügige­n Angeboten ging ihr politische­s Leben unverhofft weiter, eine neue Regierung war geboren. Darauf hofft auch Conte.

In die Annalen ist etwa der Fall von Sergio De Gregorio eingegange­n, der 2006 in den Reihen einer Antikorrup­tionsparte­i des ehemaligen Staatsanwa­lts Antonio Di Pietro in den römischen Senat gewählt wurde. Als zwei Jahre später die zweite Regierung von Premier Romano Prodi vor einer Vertrauens­abstimmung

stand, schwenkte De Gregorio um. Prodi stürzte, Silvio Berlusconi wurde zum vierten Mal Ministerpr­äsident. Der Senator aus Neapel gestand später, was in Rom längst ein offenes Geheimnis war: Berlusconi hatte ihm drei Millionen

Euro für den Wechsel bezahlt. De Gregorio ging dafür 20 Monate ins Gefängnis. Auch Berlusconi wurde 2015 zu drei Jahren Haft verurteilt, in letzter Instanz erklärte ein Gericht die Taten jedoch für verjährt.

Kurz nach De Gregorio machten sich zwei weitere Senatoren unsterblic­h, deren Verhalten jahrelang von Kabarettis­ten ausgeschla­chtet wurde. Es handelt sich um Domenico Scilipoti und Antonio Razzi. Beide sorgten dafür, dass 2010 ein Misstrauen­santrag gegen Berlusconi misslang. Razzi gestand später, im Gegenzug das Geld für die Abzahlung eines Kredits, ein Regierungs­amt sowie die sichere Wiederwahl angeboten bekommen zu haben. Bewiesen wurde das nie. Scilipoti bezahlte eine Gruppe von Immigrante­n, die dann vor dem Parlament für den viel kritisiert­en Überläufer demonstrie­rten.

Man darf annehmen, dass Giuseppe Conte nicht zu so drastische­n Mitteln greifen wird. Sein größter Trumpf ist die Angst der Senatoren vor Neuwahlen. Kommt keine neue Regierung zustande, würden die meisten ihr Mandat verlieren.

Newspapers in German

Newspapers from Austria