EU diskutiert Recht auf Unerreichbarkeit
Einfach abschalten: Das ist gerade im Homeoffice gar nicht so einfach. Das EU-Parlament will Privatleben und Beruf klar voneinander trennen. Als Vorbild könnte Frankreich dienen.
„Wir brauchen ein europäisches Recht auf Nichterreichbarkeit.“Davon ist der maltesische EU-Abgeordnete Alex Agius Saliba überzeugt. Es müsse Zeiten geben, in denen der Computerbildschirm schwarz bleibe, das Smartphone stumm und der E-Mail-Eingang leer. Am Mittwoch bringt der Sozialdemokrat eine entsprechende Resolution im Plenum des EU-Parlaments ein. Sie dürfte eine Mehrheit finden. Die Coronapandemie hat dem Thema neue Aktualität und Brisanz verschafft. Noch vor einem Jahr war Homeoffice ein Randphänomen in der Arbeitswelt. Nicht einmal sechs Prozent aller Arbeitnehmer in der EU gingen ihren Berufen von zu Hause aus nach. Im Juli, mitten in der Coronapandemie, waren es im EU-Durchschnitt 48 Prozent, die ganz oder teilweise von zu Hause aus arbeiteten.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine Umfrage der EU-Agentur Eurofound mit Sitz in Dublin. Im April und Juli des Vorjahres hat sie erhoben, wie sich Leben und Arbeiten in der EU seit Ausbruch der Pandemie verändert haben. 87.000 Fragebögen, die aus allen Mitgliedsländern eingingen, wurden dafür ausgewertet.
E-Mails checken beim Frühstück, Anrufe beantworten in der Mittagspause, die letzte SMS an die Kollegen irgendwann nach dem Abendessen: Für viele, die zu Hause arbeiten, verschwimmen die Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit. Fast jeder vierte Betroffene gab in der Eurofound-Umfrage im Juli an, im Homeoffice auch in der Freizeit gearbeitet zu haben.
Evelyn Regner, SPÖ-Gewerkschafterin und EU-Abgeordnete, sagt, dass sich viele Menschen in der Coronakrise mit ihrem Unternehmen besonders identifizierten und über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus engagierten – auch weil es um den eigenen Job gehe. „Aber das darf nicht der neue Normalzustand werden“, fordert die Sozialdemokratin. „Der Coronakrise darf nicht die Psychokrise folgen.“Dauernde Erreichbarkeit in der Freizeit schaffe Stress und mache krank. Frauen seien besonders gefährdet. Schon vor Corona seien die Belastungen zu hoch gewesen.
Das EU-Parlament fordert von der EU-Kommission – nur sie kann Gesetzesvorschläge machen – einen Entwurf zu einer Rahmenrichtlinie. Die Nationalstaaten und die Sozialpartner sollen dann nach diesen Vorgaben regeln, wie sie das Recht auf Nichterreichbarkeit garantieren.
„Die Resolution zielt nicht darauf ab, alles über einen Kamm zu scheren“, versichert SPÖ-Mandatarin Regner. Die Regelungen müssten Rücksicht nehmen auf die Erfordernisse von Branchen und Regionen. Als Beispiel nennt sie die EU-Arbeitszeitrichtlinie, die im Schnitt 48 Stunden Normalarbeitszeit und elf Stunden tägliche, ununterbrochene Ruhezeit vorschreibt. Auch diese werde flexibel gehandhabt, man müsse zum Beispiel nur an die Modelle für Spitalsärzte denken.
Frankreich hat 2016 als erstes EU-Land das Recht auf Unerreichbarkeit im Arbeitsgesetz verankert. Es schreibt Firmen mit 50 und mehr Mitarbeitern eine Betriebsvereinbarung vor. Darin müssen der Gebrauch von Computern und Handys sowie Abschaltzeiten geregelt sein.
In Deutschland gibt es kein Gesetz, aber schon länger eine Debatte über die Grenzen der Erreichbarkeit. Große Unternehmen wie Puma, BMW oder VW haben freiwillig Regelungen über das Abdrehen von Handy und Laptop getroffen.
In Österreich gebe es keinen Bedarf für eine gesetzliche Regelung, sagt die Leiterin der sozialpolitischen Abteilung in der Arbeiterkammer Wien, Silvia Hruška-Frank. „Es ist geltendes Recht, dass man in der Freizeit nicht erreichbar sein muss“, erklärt sie. „Es sei denn, es ist Rufbereitschaft vereinbart, aber die ist Arbeitszeit und zu bezahlen.“
Die Gesetzeslage sei eine Sache, räumt sie ein, die Praxis sehe oft anders aus. Sie erinnert an eine Online-Umfrage unter 3500 Personen aus dem Jahr 2017. Schon damals gab jeder zweite Befragte an, dass im Betrieb erwartet werde, auf Anrufe oder E-Mails auch in der Freizeit zu reagieren. Nur 13 Prozent bekamen diese Bereitschaft bezahlt.
Für den EU-Abgeordneten Lukas Mandl (ÖVP) ist die Debatte um Unerreichbarkeit ein „brennendes Thema“. Ob er kommende Woche für die Resolution stimmen oder sich enthalten werde, hat er noch nicht entschieden. „Wenn wir neues Misstrauen“zwischen Arbeitgeber Arbeitnehmer aufbauen, „dann haben wir den falschen Drall“, warnt er. Er bevorzuge auf jeden Fall eine sozialpartnerschaftliche Vereinbarung. Nur wenn auch ein darauf abzielender Antrag eine Mehrheit finde, werde er dem Gesamtpaket zustimmen. Mandl verwies darauf, dass sich Österreichs Sozialpartner dem Grunde nach auf eine Vereinbarung zum Homeoffice geeinigt haben. Diese ist aber noch nicht öffentlich bekannt.
Homeoffice wird auch nach dem Ende der Coronapandemie ein Thema bleiben. Denn viele schätzen auch die Vorteile, die damit verbunden sind. 78 Prozent der EU-Arbeitnehmer wollen auch in Zukunft zumindest zeitweise von zu Hause aus arbeiten. Vollständig auf Homeoffice umsteigen wollen laut Eurofound allerdings nur 13 Prozent.
„Das darf nicht der neue Normalzustand werden.“Evelyn Regner, SPÖ
„Wir wollen kein neues Misstrauen aufbauen.“Lukas Mandl, ÖVP