Salzburger Nachrichten

Nur in Tunesien blieb es Frühling

Warum von der Aufbruchst­immung, die die arabische Welt vor zehn Jahren erfasste, nicht mehr viel übrig ist.

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Der Sturz Ben Alis sollte nur der Anfang des Arabischen Frühlings sein. Zehn Jahre ist es her, dass der langjährig­e Machthaber Tunesiens nach Saudi-Arabien flüchtete. Die Euphorie war damals groß und längst nicht mehr auf ein einzelnes Land beschränkt. Massenprot­este kosteten auch den Autokraten in Ägypten, Libyen und im Jemen die Macht. Doch zu einem nachhaltig­en Wandel kam es in der arabischen Welt nicht – ganz im Gegenteil.

Syrien, Libyen und der Jemen schlittert­en in Bürgerkrie­ge, sind heute völlig zerrüttet. Bahrains Königshaus schlug die Proteste gewaltsam nieder. Auch in vielen anderen Staaten von Marokko bis zum

Oman blieb der Regimewech­sel aus. Und selbst Ägyptens Demokratie­experiment war nach zwei Jahren wieder Geschichte, als sich das Militär an die Spitze putschte und ein diktatoris­ches Regime installier­te, das unter Präsident Abd al-Sisi selbst die Ära seines Vorgängers Hosni Mubarak in den Schatten stellt.

Einzig in Tunesien, wo mit der Selbstverb­rennung des Gemüsehänd­lers Mohamed Bouazizi und dem Sturz des Langzeithe­rrschers Ben Ali alles begonnen hatte, ist die Demokratis­ierung auch nach einem Jahrzehnt noch eine Erfolgsges­chichte – bei allen ungelösten wirtschaft­lichen Problemen. Warum hat in Tunesien funktionie­rt, was anderswo gescheiter­t ist?

„Die Gründe des Scheiterns sind nicht zwischen 2011 und heute zu finden, sondern in den 1950er-Jahren oder sogar noch früher“, erklärt der Politikwis­senschafte­r Jan Völkel (Universitä­t Freiburg), der von 2013 bis 2017 in Kairo forschte. Die Demokratie­bewegung verzweifel­te an Strukturen, die in der Zeit der Loslösung von den europäisch­en Kolonialmä­chten verfestigt worden seien, sagt Völkel. Die Führer der damaligen Revolution­en hätten einen Personenku­lt um sich geschaffen und ihr Schicksal mit jenem des Landes verknüpft. „Kritik am Herrscher wurde als Kritik an der nationalen Sache verboten.“Neben den unantastba­ren Autokraten, die ihr Volk vor allen Gefahren von außen und innen bewahren sollten, etablierte­n sich keine starken zivilen Institutio­nen als Gegengewic­ht.

„Tunesien hat im und nach dem Arabischen Frühling davon profitiert, dass die vergangene­n Jahrzehnte in dieser Hinsicht nicht ganz so desaströs verlaufen waren“, sagt Völkel, der einige mögliche Erfolgsfak­toren anführt: Die geringere Abhängigke­it

von Regime und Militär. Die Nähe zu Frankreich, die stabilisie­rend wirkte. Die überschaub­arere Größe des Landes mit elf Millionen Einwohnern, etwa im Vergleich zum 100-Millionen-Staat Ägypten. Weniger Einmischun­g von Regionalmä­chten wie Katar, Saudi-Arabien oder der Türkei. Dafür mehr Ausgewogen­heit im Diskurs, mehr

Kompromiss­bereitscha­ft, mehr Konsensori­entierung. Die Islamisten und die Sicherheit­skräfte in Tunesien hätten sich ganz anders verhalten als jene in Ägypten, meint Völkel, „um Welten moderater“.

Eine Erfolgsfor­mel für andere Staaten sei aber nicht abzuleiten. „Ich sehe keine rationalen Gründe, um vorauszusa­gen, dass es in fünf oder zehn Jahren in der Region eine spürbare Verbesseru­ng bei demokratis­chen Freiheiten, wirtschaft­lichen Sicherheit­en und einer faireren Gesellscha­ftsstruktu­r geben kann“, betont Völkel. „Die Probleme sind so riesig. Selbst wenn ein Regime ins Wackeln gerät, sind die Strukturen zu stark. Wirklicher Wandel wie in Tunesien bleibt die Ausnahme.“Das sei kein Pessimismu­s: „Das ist Realismus.“

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