In der Streamingwelt brauchen Hits neue Zauberformeln
2020 wurde für Musikstreamingdienste zum Rekordjahr. Ihre Vormacht verändert auch die Art, wie Songs geschrieben werden.
Zu Weihnachten und zu Silvester zeigten die Kurven am steilsten nach oben. Während die traditionellen Feiern in die Ferne rückten, lag der Griff zum Smartphone oder zum Tablet nah. Am 24. Dezember wurden allein in Deutschland 605 Millionen Mal Songs bei Musikstreamingdiensten angeklickt. Und zum Jahreswechsel zählte das deutsche Marktforschungsunternehmen GfK Entertainment 537 Millionen Zugriffe auf das riesige digitale Songangebot von Spotify, Apple Music und Co.
Mit solchen Zahlen ging in vielen Ländern ein Jahr der Rekorde beim Musikstreaming zu Ende. 139 Milliarden Audiostreams seien in Deutschland 2020 konsumiert worden, rechnete der Bundesverband Musikindustrie vor. Das ist etwa ein Drittel mehr als noch 2019.
In Österreich wird die aktuelle Entwicklung des Musikmarkts in den kommenden Wochen bilanziert. Die Entwicklung dürfte aber ähnlich sein. Der Anstieg ist auch nicht überraschend: In einem Jahr, in dem Livekonzerte kaum oder nur mit starken Einschränkungen stattfinden konnten und auch der Tonträgerhandel streckenweise nicht öffnen konnte, hat sich der Musikkonsum zwangsläufig noch stärker in Richtung Streaming verlagert. Der Trend, der schon vor Corona den Streamingdiensten jährliche Zuwächse bescherte, hat sich durch die Pandemie massiv verstärkt.
Das bestätigt auch ein Blick ins Popland Großbritannien: Die britische Phono-Industrie hat kürzlich ebenfalls eine digitale Bilanz gezogen. Für 2020 kommt auch sie auf ein Ergebnis von 139 Milliarden Audiostreams (2019: 100 Milliarden). Streaming sei mittlerweile für 80 Prozent der Umsätze mit Musikaufnahmen verantwortlich, heißt es in der Bestandsaufnahme.
Für Musikhörer sind Apple Music und Co. ein bequemes Vergnügen. Gegen eine monatliche Gebühr (oder Inkaufnahme von Werbung) steht unendliche Vielfalt an Songs und Alben zur Verfügung. Für Musiker hat dieses System hingegen weitreichende Auswirkungen auf ihr Tun. Das wiederum bekommen auch die Musikfans zu hören.
Die Formel „Zeit ist Geld“bestimmt immer öfter den Sound der aktuellen Hits. Weil die Vergütung, die Musiker pro Klick auf ihre Songs bekommen, verschwindend gering ist und die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit im digitalen Musikmarkt zugleich riesig, gelten für Songs, die im Streamingumfeld erfolgreich funktionieren sollen, harte Regeln. Eine davon lautet, dass eine Nummer nicht viele Takte brauchen darf, um zum Punkt zu kommen: Erst nach 30 Sekunden wird ein Klick auf Spotify gezählt. In dieser kurzen Zeit müssen Hörer zum Bleiben überredet werden, die gewohnheitsmäßig oft schon nach fünf Sekunden weiterzappen. Lange Einleitungen, die zum allmählichen Spannungsaufbau dienen, sind daher großteils aus dem Baukasten für Pophits verschwunden. Der kanadische Musikwissenschafter Hubert Léveillé Gauvin hat für eine Doktorarbeit Hits durch die Jahrzehnte analysiert: „Das Intro gibt es nicht mehr“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“.
Zugleich wandern Refrains innerhalb der Kompositionen immer weiter nach vorn. Und die Songs selbst werden immer kürzer. Viele kurze Nummern auf einem Album versprechen in Summe mehr Verlockung zum Anklicken als wenige lange Nummern. Streamingvirtuosen wie der Rapper Drake führen das auf ihren Alben längst vor. Als „Spotify-Effekt“wird das Phänomen gelegentlich bezeichnet.