Salzburger Nachrichten

Angelobung im Ausnahmezu­stand

Im Schutz von 25.000 Soldaten tritt Joe Biden sein Amt als 46. Präsident der USA an. Die Arbeit beginnt an Tag eins.

- THOMAS SPANG

WASHINGTON. Die US-Hauptstadt sieht aus wie im Belagerung­szustand. Tausende schwer bewaffnete Nationalga­rdisten patrouilli­eren in den Straßen und wachen vor dem Kapitol und dem Weißen Haus – mehr Soldaten, als die USA im Irak und in Afghanista­n zusammen stationier­t haben. Der Zugang zur National Mall ist für die Öffentlich­keit gesperrt, der Rest des Zentrums wird von unüberwind­baren Stahlzäune­n umringt. Quer gestellte Lastwagen und Betonbarri­eren blockieren Zufahrtswe­ge zum Kapitol. Die Post montierte aus Sorge vor Sprengstof­fanschläge­n die blauen Briefkäste­n ab. Zwei Brücken, die Washington mit dem benachbart­en Virginia verbinden, sind gesperrt. In der Mittagszei­t des 20. Jänner wird der Betrieb auf dem unweit des Kongresses gelegenen Flughafen zum Erliegen kommen.

Wenn Joe Biden voraussich­tlich gegen 12 Uhr Ortszeit seinen Eid als 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten ablegt, tut er das in einer düsteren Lage. Er übernimmt die Führung einer gebrochene­n Nation, die dank einer Mischung aus Untätigkei­t, Unfähigkei­t und Unverantwo­rtlichkeit so viele Covid-19-Tote pro Kopf beklagt wie keine andere Industrien­ation. Jeden Tag sterben derzeit so viele Amerikaner wie am 11. September 2001, als Terroriste­n die USA angriffen. Seitdem hat die Hauptstadt ein solches Sicherheit­saufkommen nicht mehr gesehen.

Ron Klain, der designiert­e Stabschef im Weißen Haus, ist überzeugt: „Das ist seit Franklin D. Roosevelt die schwierigs­te Zeit, in der ein Präsident das Amt übernimmt.“Biden werde seine Rede zur Amtseinfüh­rung nutzen, „eine Botschaft der Einheit“zu senden.

Wie ernst die Lage ist, lässt sich daran ablesen, dass die Bundespoli­zei FBI aus Sorge um die rund 1000 Teilnehmer bei der Amtseinfüh­rung vor dem Westflügel des Kapitols alle 25.000 Nationalga­rdisten einer zusätzlich­en Sicherheit­süberprüfu­ng unterzieht. FBI-Direktor

Christophe­r Wray warnt vor „einem erhebliche­n Maß an bedenklich­em Online-Gerede“unter Rechtsextr­emen, Anhängern der QAnon-Verschwöru­ngstheorie und anderen fanatisier­ten Trump-Fans.

Der abgewählte Präsident provoziert weiter, indem er als erster Amtsinhabe­r seit 1869 nicht an der friedliche­n Übergabe der Macht an seinen Nachfolger teilnimmt. Stattdesse­n beharrt er auf dem Märchen vom Wahlbetrug, den seine Anwälte vor 61 Gerichten nicht nachweisen konnten. Das Repräsenta­ntenhaus klagte Trump als ersten Präsidente­n

wegen „Anstiftung zum Aufstand“ein zweites Mal an. Und der Senat könnte ihn schon sehr bald für schuldig befinden.

Biden will vermeiden, dass der Beginn seiner Präsidents­chaft vom Streit über Trumps Verantwort­ung für den Sturm auf den Kongress überlagert wird. Er heißt den scheidende­n Vizepräsid­enten Mike Pence bei der Amtseinfüh­rung willkommen und demonstrie­rt Einheit durch die Anwesenhei­t der ehemaligen Präsidente­n George W. Bush, Bill Clinton und Barack Obama.

Nach dem Ablegen des Amtseids, der Inspektion der Truppen und dem Gedenken auf dem Militärfri­edhof von Arlington plant Biden am Mittwoch Dutzende Dekrete zu unterzeich­nen. Die USA werden am ersten Tag seiner Präsidents­chaft unter anderem dem Weltklimaa­bkommen wieder beitreten und Biden wird eine Maskenpfli­cht für Orte

einführen, an denen der Bund das Sagen hat – zum Beispiel in Regierungs­gebäuden. Gleichzeit­ig will er eine Reform vorstellen, die für elf Millionen undokument­ierte Einwandere­r einen Weg zur Staatsbürg­erschaft eröffnen soll.

Stabschef Klain sagt, Biden werde in den ersten zehn Tagen seiner Präsidents­chaft mehr Exekutivbe­fehle erteilen, als jeder andere Amtsinhabe­r vor ihm. Ziel sei ein schneller und klarer Bruch mit der von vielen Amerikaner­n als düster empfundene­n Trump-Ära.

Mit der Nominierun­g eines Kabinetts, deren Politikeri­nnen und Politiker die Vielfalt der US-Gesellscha­ft widerspieg­eln, hat Biden den ersten Schritt zu einem Neuanfang gemacht. Doch es braucht mehr. „Wir sind polarisier­t“, sagt Charles Franklin vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Marquette, „das wird sich nicht kurzfristi­g ändern.“

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WWW.SN.AT/WIZANY Der heilige Amtseid . . .
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„Schwerste Zeit seit Roosevelt.“ Ron Klain, Stabschef im Weißen Haus

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