Angelobung im Ausnahmezustand
Im Schutz von 25.000 Soldaten tritt Joe Biden sein Amt als 46. Präsident der USA an. Die Arbeit beginnt an Tag eins.
WASHINGTON. Die US-Hauptstadt sieht aus wie im Belagerungszustand. Tausende schwer bewaffnete Nationalgardisten patrouillieren in den Straßen und wachen vor dem Kapitol und dem Weißen Haus – mehr Soldaten, als die USA im Irak und in Afghanistan zusammen stationiert haben. Der Zugang zur National Mall ist für die Öffentlichkeit gesperrt, der Rest des Zentrums wird von unüberwindbaren Stahlzäunen umringt. Quer gestellte Lastwagen und Betonbarrieren blockieren Zufahrtswege zum Kapitol. Die Post montierte aus Sorge vor Sprengstoffanschlägen die blauen Briefkästen ab. Zwei Brücken, die Washington mit dem benachbarten Virginia verbinden, sind gesperrt. In der Mittagszeit des 20. Jänner wird der Betrieb auf dem unweit des Kongresses gelegenen Flughafen zum Erliegen kommen.
Wenn Joe Biden voraussichtlich gegen 12 Uhr Ortszeit seinen Eid als 46. Präsident der Vereinigten Staaten ablegt, tut er das in einer düsteren Lage. Er übernimmt die Führung einer gebrochenen Nation, die dank einer Mischung aus Untätigkeit, Unfähigkeit und Unverantwortlichkeit so viele Covid-19-Tote pro Kopf beklagt wie keine andere Industrienation. Jeden Tag sterben derzeit so viele Amerikaner wie am 11. September 2001, als Terroristen die USA angriffen. Seitdem hat die Hauptstadt ein solches Sicherheitsaufkommen nicht mehr gesehen.
Ron Klain, der designierte Stabschef im Weißen Haus, ist überzeugt: „Das ist seit Franklin D. Roosevelt die schwierigste Zeit, in der ein Präsident das Amt übernimmt.“Biden werde seine Rede zur Amtseinführung nutzen, „eine Botschaft der Einheit“zu senden.
Wie ernst die Lage ist, lässt sich daran ablesen, dass die Bundespolizei FBI aus Sorge um die rund 1000 Teilnehmer bei der Amtseinführung vor dem Westflügel des Kapitols alle 25.000 Nationalgardisten einer zusätzlichen Sicherheitsüberprüfung unterzieht. FBI-Direktor
Christopher Wray warnt vor „einem erheblichen Maß an bedenklichem Online-Gerede“unter Rechtsextremen, Anhängern der QAnon-Verschwörungstheorie und anderen fanatisierten Trump-Fans.
Der abgewählte Präsident provoziert weiter, indem er als erster Amtsinhaber seit 1869 nicht an der friedlichen Übergabe der Macht an seinen Nachfolger teilnimmt. Stattdessen beharrt er auf dem Märchen vom Wahlbetrug, den seine Anwälte vor 61 Gerichten nicht nachweisen konnten. Das Repräsentantenhaus klagte Trump als ersten Präsidenten
wegen „Anstiftung zum Aufstand“ein zweites Mal an. Und der Senat könnte ihn schon sehr bald für schuldig befinden.
Biden will vermeiden, dass der Beginn seiner Präsidentschaft vom Streit über Trumps Verantwortung für den Sturm auf den Kongress überlagert wird. Er heißt den scheidenden Vizepräsidenten Mike Pence bei der Amtseinführung willkommen und demonstriert Einheit durch die Anwesenheit der ehemaligen Präsidenten George W. Bush, Bill Clinton und Barack Obama.
Nach dem Ablegen des Amtseids, der Inspektion der Truppen und dem Gedenken auf dem Militärfriedhof von Arlington plant Biden am Mittwoch Dutzende Dekrete zu unterzeichnen. Die USA werden am ersten Tag seiner Präsidentschaft unter anderem dem Weltklimaabkommen wieder beitreten und Biden wird eine Maskenpflicht für Orte
einführen, an denen der Bund das Sagen hat – zum Beispiel in Regierungsgebäuden. Gleichzeitig will er eine Reform vorstellen, die für elf Millionen undokumentierte Einwanderer einen Weg zur Staatsbürgerschaft eröffnen soll.
Stabschef Klain sagt, Biden werde in den ersten zehn Tagen seiner Präsidentschaft mehr Exekutivbefehle erteilen, als jeder andere Amtsinhaber vor ihm. Ziel sei ein schneller und klarer Bruch mit der von vielen Amerikanern als düster empfundenen Trump-Ära.
Mit der Nominierung eines Kabinetts, deren Politikerinnen und Politiker die Vielfalt der US-Gesellschaft widerspiegeln, hat Biden den ersten Schritt zu einem Neuanfang gemacht. Doch es braucht mehr. „Wir sind polarisiert“, sagt Charles Franklin vom Meinungsforschungsinstitut Marquette, „das wird sich nicht kurzfristig ändern.“