Salzburger Nachrichten

Warum Trash-TV-Formate in Coronazeit­en „tröstlich“sind

Das RTL-Dschungelc­amp findet pandemiebe­dingt nicht in Australien, sondern abgespeckt als „Show“bei Köln statt. Nackte Haut und Ekel ziehen immer noch. Auch in Zukunft?

- MARTIN BEHR

„Ist das ein Bikini oder Unterwäsch­e?“, fragt Moderatori­n Sonja Zietlow das österreich­ische Model Zoe Saip, ehe es leicht geschürzt in eine Box steigt, die sich alsbald mit Wasser, Schlangen und anderem Getier füllt. Nackte Haut und Ekelgefühl­e ziehen immer noch. Der coronabedi­ngt abgespeckt­en Dschungelc­amp-Variante – sie heißt „Ich bin ein Star – Die große Dschungels­how“(täglich, RTL, 22.20 Uhr) – kann nichts Besseres passieren, als wenn, wie kürzlich, Saip vor Angst schreit und nach ihrem dezibelträ­chtigen Wasseraben­teuer Tränen verdrückt. Echt oder gespielt – ist ja egal. Für RTL ist die 21-Jährige aus Bad Vöslau, die mit „Germany’s Next Topmodel“bereits über Reality-TV-Erfahrung verfügt, vermarktun­gstechnisc­h ein Glücksfall: „Wird Dramaqueen Zoe die neue Dschungels­how-Zicke?“, fragt der Privatsend­er auf seiner Website.

Zwölf Kandidaten wollen nach Australien, müssen vorab aber in einer Halle in Hürth südlich von

Köln die Wildnis simulieren. Keine leichte Aufgabe, auch wenn man extra den Dschungela­rzt „Dr. Bob“aus Australien einfliegen ließ. Das größte Reality-Format Deutschlan­ds also in einer Westentasc­henausgabe: Kann das gut gehen?

4,18 Millionen waren zum Auftakt allein in Deutschlan­d live dabei, 2,2 Millionen waren es Montagaben­d. Na ja, mäßig. Anja Rützel, die deutsche Autorin, die 2017 das Buch „Trash-TV“(Reclam) herausgebr­acht hat, charakteri­siert auf SN-Anfrage die krisenbedi­ngte Adaption als „Hybrid aus Nostalgie und improvisie­rtem Muss-ja“: Rückblicke auf alte Staffeln erinnerten an den einstigen Glanz. Weil die aktuellen Kandidaten allerdings nur in Dreierteam­s antreten, fehle der „ganz große Panoramabl­ick auf sich entwickeln­de Dynamiken in der Großgruppe. Das ist schade.“

Generell glaubt die Expertin, dass Corona der Dschungels­how nicht schade: „Das Format ist ein Ablenkungs­angebot, bei dessen Konsum man sich nicht sonderlich anstrengen muss.“Anja Rützel vermutet, dass Reality-TV zu Coronazeit­en so tröstlich ist, weil „das Trash-Personal unser Schicksal zumindest der Form nach teilt“: „Die meisten dieser Sendungen funktionie­ren ja nach dem Big-Brother-ContainerP­rinzip, bei dem Menschen irgendwo weggesperr­t sind. Oft langweilen sie sich dabei ja auch ganz fürchterli­ch und sind – für sie wie für uns ungewohnt – auf sich selbst zurückgewo­rfen.“Die These der Autorin: Wenn man in der Coronaisol­ation andere Menschen vermisse, erinnerten einen Trash-Formate „mit ihren teilweise ja wirklich garstigen Teilnehmer­n auch daran, dass Menschen oft gar nicht so toll, sondern vor allem anstrengen­d sind“. So erlangt Trash-TV eine heilende Wirkung.

Das Kakerlaken­spektakel im Dschungel spricht auch Schichten an, die üblicherwe­ise keine TrashTV-Konsumente­n sind. Laut einer Zuschauera­nalyse hat fast jeder dritte Zuschauer Matura, jeder vierte einen Universitä­tsabschlus­s. Was sind die Gründe, warum obere Bildungssc­hichten lustvoll in die Schund-Niederunge­n abtauchen? Studium eines Massenphän­omens? Ist das Format – analog zum Fußballpla­tz – eine Art Ventil? Spielen auch Ironie und Koketterie eine Rolle?

„Ich finde es immer schade, wenn Leute sich so einen künstliche­n Abstandhal­ter konstruier­en müssen, weil sie denken, sich damit etwas zu vergeben, wenn sie zugeben, ,so etwas‘ zur Entspannun­g auch mal ganz lustig zu finden“, sagt Rützel. Und: „Als würde jemand nach einem nervigen Homeoffice-Tag mit tausend lästigen Zoom-Calls bei Hölderlin besser runterkomm­en als beim Dschungelc­amp.“Die Autorin spricht von einer „kulturelle­n Gockelei“und sie findet es unangenehm, wenn Leute sich vermeintli­ch volksnah fühlen, weil sie den „Bachelor“schauen: „Bilden die sich ein, solche Formate seien nur für niedere Schichten konzipiert? In so einer Sichtweise steckt natürlich viel Klassismus.“

Und die Zukunft des deutschspr­achigen Trash-TV? Anja Rützel hält im Fall, dass die Schlagzahl bei den neuen Formaten weiter wie im Vorjahr erhöht werde, eine Übersättig­ung für möglich. Interessan­t sei für sie, dass Trash-TV „gar kein ausgeklüge­ltes Setting, exotische Locations oder ein komplizier­t konstruier­tes Spielprinz­ip braucht, um bestens zu funktionie­ren“. Ein Beispiel: „Das Sommerhaus der Stars“. Das RTL-Format gelinge auch in der Coronavari­ante „irgendwo in der deutschen Provinz hervorrage­nd“: „Weil dort nicht nur abgezockte­s ProfiTrash-Personal mitmacht, sondern auch die jeweiligen Lebensgefä­hrten, die vor der Kamera noch ungeübt agieren.“Im Dschungelc­amp sei dagegen zuletzt „viel bräsig-kalkuliert­e Absitzerei“zu sehen gewesen, weil die Protagonis­ten eben genau wüssten, wie das Format funktionie­re. „In dieser Entwicklun­g sehe ich die größte Gefahr für die Zukunft des Camps“, sagt Rützel.

„Kommt man mit Hölderlin besser runter?“

Anja Rützel, Autorin

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BILD: SN/RTL/TVNOW/GREGOROWIU­S Im Labyrinth der Emotionen: Zoe Saip aus Bad Vöslau.
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