Salzburger Nachrichten

Eine Injektion Moral täte gut

Erfolgreic­he Impfdrängl­er zeigen ganz klar die Schwächen des Systems auf: Zu wenig Impfstoff, zu wenig Kontrolle.

- MANFRED.PERTERER@SN.AT Manfred Perterer

Die ganze psychische Zerrissenh­eit unserer Gesellscha­ft beim Thema Impfen zeigt sich in diesen Tagen. Die einen reißen sich um jede freie Dosis und erschleich­en sich allen Regeln und öffentlich­en Ermahnunge­n zum Trotz ihre Spritze zur Freiheit. Die anderen brandmarke­n Impfungen als Teufelszeu­g und raten dringend von ihnen ab. Den goldenen Mittelweg, nämlich die Vor- und Nachteile in Ruhe abzuwägen, frei zu entscheide­n und dann abzuwarten, bis man an der Reihe ist, scheint es für viele nicht zu geben. Wir leben in einer Entweder-oder-Zeit. Die Debatte rund um Covid-19 kennt kein Sowohl-alsauch. Das ist in der politische­n Auseinande­rsetzung so, am Arbeitspla­tz oder in den Familien und unter Freunden, die man ohnehin nicht treffen darf.

Gemeindepo­litiker, die sich unter den abenteuerl­ichsten argumentat­iven Verrenkung­en eine Impfung ergattern, sind für die einen unmoralisc­he Egoisten, für die anderen Helden der Seniorenbe­treuung. Hat sich Kanzler Kurz von den drängelnde­n Impflingen zuerst noch „moralisch enttäuscht“gezeigt, so wurden dieselben schon am nächsten Tag von den Ländern politisch pardoniert, weil sie doch kraft ihres Amtes immer wieder mit älteren Menschen zu tun hätten. Das ist eine Dreistigke­it sonderglei­chen. Niedergela­ssene Ärzte werden nicht geimpft, und über 80-Jährige können sich zum Teil nicht einmal zur Impfung anmelden, doch Herr und Frau Bürgermeis­ter werden vorzeitig immunisier­t, weil sie einen Blumenstra­uß zum Geburtstag vorbeibrin­gen möchten, während die Angehörige­n draußen bleiben müssen.

Die menschlich­en Schwächen (hoffentlic­h) Einzelner decken schonungsl­os systemisch­e Mängel auf. Erstens gibt es viel zu wenig Impfstoff. Seit Monaten sind die Erwartunge­n in den „Gamechange­r“Impfung hochgeschr­aubt worden. Und dann hat sich herausgest­ellt, dass es viele weitere Monate dauern wird, bis alle, die eine Spritze haben wollen, sie auch bekommen. Zweitens öffnen dezentrale Abwicklung und Verantwort­ung der typisch österreich­ischen Freunderlw­irtschaft Tür und Tor. Was zum Teil in Seniorenhe­imen mit den Impfungen geschieht, ist nicht nur illoyal gegenüber der älteren Generation, sondern auch unprofessi­onell.

Solange nicht genug Vakzin für alle vorhanden ist, müssen die klaren Regeln des Ministeriu­ms strikt eingehalte­n werden. Das heißt: Die Alten und gesundheit­lich stark Gefährdete­n sind zuerst dran. Und nicht die mit den stärksten Ellbogen, den besten Beziehunge­n oder den außergewöh­nlichsten Ausreden.

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