Eine Injektion Moral täte gut
Erfolgreiche Impfdrängler zeigen ganz klar die Schwächen des Systems auf: Zu wenig Impfstoff, zu wenig Kontrolle.
Die ganze psychische Zerrissenheit unserer Gesellschaft beim Thema Impfen zeigt sich in diesen Tagen. Die einen reißen sich um jede freie Dosis und erschleichen sich allen Regeln und öffentlichen Ermahnungen zum Trotz ihre Spritze zur Freiheit. Die anderen brandmarken Impfungen als Teufelszeug und raten dringend von ihnen ab. Den goldenen Mittelweg, nämlich die Vor- und Nachteile in Ruhe abzuwägen, frei zu entscheiden und dann abzuwarten, bis man an der Reihe ist, scheint es für viele nicht zu geben. Wir leben in einer Entweder-oder-Zeit. Die Debatte rund um Covid-19 kennt kein Sowohl-alsauch. Das ist in der politischen Auseinandersetzung so, am Arbeitsplatz oder in den Familien und unter Freunden, die man ohnehin nicht treffen darf.
Gemeindepolitiker, die sich unter den abenteuerlichsten argumentativen Verrenkungen eine Impfung ergattern, sind für die einen unmoralische Egoisten, für die anderen Helden der Seniorenbetreuung. Hat sich Kanzler Kurz von den drängelnden Impflingen zuerst noch „moralisch enttäuscht“gezeigt, so wurden dieselben schon am nächsten Tag von den Ländern politisch pardoniert, weil sie doch kraft ihres Amtes immer wieder mit älteren Menschen zu tun hätten. Das ist eine Dreistigkeit sondergleichen. Niedergelassene Ärzte werden nicht geimpft, und über 80-Jährige können sich zum Teil nicht einmal zur Impfung anmelden, doch Herr und Frau Bürgermeister werden vorzeitig immunisiert, weil sie einen Blumenstrauß zum Geburtstag vorbeibringen möchten, während die Angehörigen draußen bleiben müssen.
Die menschlichen Schwächen (hoffentlich) Einzelner decken schonungslos systemische Mängel auf. Erstens gibt es viel zu wenig Impfstoff. Seit Monaten sind die Erwartungen in den „Gamechanger“Impfung hochgeschraubt worden. Und dann hat sich herausgestellt, dass es viele weitere Monate dauern wird, bis alle, die eine Spritze haben wollen, sie auch bekommen. Zweitens öffnen dezentrale Abwicklung und Verantwortung der typisch österreichischen Freunderlwirtschaft Tür und Tor. Was zum Teil in Seniorenheimen mit den Impfungen geschieht, ist nicht nur illoyal gegenüber der älteren Generation, sondern auch unprofessionell.
Solange nicht genug Vakzin für alle vorhanden ist, müssen die klaren Regeln des Ministeriums strikt eingehalten werden. Das heißt: Die Alten und gesundheitlich stark Gefährdeten sind zuerst dran. Und nicht die mit den stärksten Ellbogen, den besten Beziehungen oder den außergewöhnlichsten Ausreden.