Eine Dosis Nachdenklichkeit
Ich bin geimpft und fühle mich schrecklich. Dabei habe ich keinerlei Nebenwirkungen. Es ist eher mein Gewissen, das mir Beschwerden macht.
Ich hatte mir ausgemalt, wie wundervoll es wird, wenn ich immunisiert bin und sich das Coronavirus nicht einnisten kann. Gleichzeitig würden Cafés und Geschäfte wieder öffnen und sich die Menschen des Lebens freuen. Bald würde ich wieder in Italien Cappuccino trinken und Familie und Freunde besuchen. Ich vermisse mein altes Leben.
Die freundliche Krankenschwester in meinem Gesundheitszentrum sagte „Masal tow“, als die Spritze noch in meinem Arm steckte und forderte mich auf, ein Selfie zu machen. Das würden alle Israelis tun, fügte sie hinzu, als sie meinen gequälten Blick sah. Doch mir war nicht danach.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich zu den bislang wenigen „Glücklichen“auf der Welt gehöre. Doch ein Glücksgefühl will sich partout nicht einstellen. Es geht mir dabei weder um Politik noch um Moral. Immerhin trage ich als Geimpfte dazu bei, dass sich das Virus durch mich wahrscheinlich nicht weiterverbreiten kann. Das allein wäre Grund genug, sich die Spritze setzen zu lassen.
Dennoch spüre ich einen tiefen Weltschmerz. Die Zahlen der Kranken und Toten aus anderen Ländern schockieren mich. Mein Vater in Deutschland hätte diese Impfung dringender gebraucht als ich. Er ist über 80 Jahre und hat mehrere chronische Leiden. Ihm hätte ich gewünscht, dass er nach einem Jahr Sorge seinen Alltag wieder unbeschwerter leben kann.
Wie den Millionen und Abermillionen Menschen überall, die sehnsüchtig auf die Impfung warten. Ich dagegen gehöre weder zur Risikogruppe noch bin ich Ärztin oder Krankenschwester. Mein einziger Vorteil: Ich lebe in Israel.
Gestern kam eine Textnachricht von meiner Schwester: „Wir vegetieren in diversen Lockdown-Formen vor uns hin. Keine Tests, keine Impfungen.“Manchmal ist es schwierig, sich zu freuen. Auch wenn es eigentlich allen Grund dazu gäbe.