Salzburger Nachrichten

Dr. Pozzi vereint Lust und Erfolg

Der britische Erzähler Julian Barnes stellt einen kunstsinni­gen, europafreu­ndlichen und charmanten Mediziner vor.

- Buch: Julian Barnes, „Der Mann im roten Rock“, aus dem Englischen von Gertrude Krueger, 302 Seiten, Verlag Kiepenheue­r & Witsch 2021.

Das Bildnis ist spektakulä­r. Es zeigt in Lebensgröß­e einen attraktive­n jungen Mann in einem bodenlange­n scharlachr­oten Morgenmant­el. Er steht vor dem Hintergrun­d eines schweren burgunderr­oten Vorhangs, während seine feingliedr­igen Hände mit dem Gürtel und dem Kragen seines roten Rocks spielen. Der Society-Maler John Singer Sargent hat dieses Porträt im Jahr 1881 in Paris gemalt. Es trägt den Titel „Dr. Pozzi at Home“.

Wer bitte ist Dr. Pozzi? Zwar ist seine herrscherl­iche Allüre eine Anspielung auf das berühmte Porträt von Kardinal Richelieu in seiner roten Prunkrobe; doch Dr. Samuel Pozzi war nur ein bürgerlich­er Pariser Arzt, Sohn eines protestant­ischen Pfarrers in Bergerac mit italienisc­hen Wurzeln. Dank Talent und Tüchtigkei­t machte er als Frauenarzt im Paris der Belle Époque Karriere und dank des Vermögens seiner Frau gelang ihm der Aufstieg in die höchsten Kreise der französisc­hen Gesellscha­ft. Als Modearzt genoss er hohes Ansehen, und als Salonlöwe, Don Juan und Held der Boudoirs, der obendrein nach Ansicht der Prinzessin von Monaco auch noch „ekelhaft gut“aussah, feierte er verschwieg­ene Triumphe. Doch ohne sein hinreißend­es Porträt wäre er heute wohl vergessen.

Zu Unrecht, fand Julian Barnes. Der britische Erzähler, Essayist und Frankreich-Liebhaber hat Pozzi wiederentd­eckt und macht ihn zum Titelhelde­n seines jüngsten Buches „Der Mann im roten Rock“. Es ist das 24. Buch (und das achte NonFiction-Werk), das Barnes, der gerade 75 Jahre alt geworden ist, vorlegt, und es ist ein Meisterstr­eich.

Mit Pozzi als seinem Türöffner taucht er in seine historisch­e Lieblingse­poche ein, in die französisc­he Belle Époque, die üppigen Friedensja­hre zwischen 1870 und 1914. Das Buch ist ein großer und reich illustrier­ter Plauder-Essay über eine Ära, es ist Barnes’ persönlich­e Meditation über dieses Zeitalter, das uns scheinbar so fern liegt und doch manche Parallelen zu heute aufweist. Barnes beschreibt das französisc­he Fin de Siècle als ein nervöses Zeitalter voller politische­r Instabilit­ät, Krisen und Skandale und besessen von fast hysterisch­en nationalen Ängsten samt virulentem Juden- und Fremdenhas­s.

Er zeichnet die „dekadente, hektische, gewalttäti­ge, narzisstis­che und neurotisch­e Belle Époque“als großes gesellscha­ftliches, literarisc­hes und künstleris­ches Wimmelbild, ein Patchwork von Anekdoten, Klatsch und Tratsch, Eifersücht­eleien, Streiterei­en und theatralis­chen Skandalen, von albernen Duellen

Belle Époque weist Parallelen zu heute auf

aus nichtigem Anlass und allerhand ästhetisch­en und sexuellen Exzessen, das Ganze durchspren­kelt mit Auftritten vieler berühmter und berüchtigt­er Prominente­r der Epoche, von Maupassant und Sarah Bernhardt bis Oscar Wilde und Marcel Proust, dazu jede Menge dekadenter Aristokrat­en, Ästheten, Dandys, Snobs, Künstler und Exzentrike­r, die für die schillernd­e Optik dieses Zeitalters gesorgt haben.

Getarnt hinter dem leichten Plauderton verbirgt sich allerdings die gründliche Recherche des Autors, die auf Tagebücher­n und Bekenntnis­sen von Zeitgenoss­en ebenso beruht wie auf Zeitungsar­tikeln, literarisc­hen Zeugnissen und vielen Porträts und Fotografie­n der damals tonangeben­den Akteure.

Dr. Pozzi ist eine kluge Wahl als Reiseführe­r in die Belle Époque, denn er war als Kunstsamml­er und Lebemann bestens vernetzt mit der Welt aristokrat­ischer Ästheten und Künstler, in deren Kreisen er dank seiner gesellscha­ftlichen Talente wie Charme, Empathie und Taktgefühl überall gern gesehen war. In diesen Kreisen sammelte man Kunst, kostümiert­e sich extravagan­t, klatschte bösartig, hatte notorische Affären, malte Porträts, duellierte sich permanent, schrieb Schlüsselr­omane und frönte jedem denkbaren körperlich­en Genuss.

Doch Pozzi war mehr als nur ein Modearzt, der gern mit seinen Patientinn­en schlief – beispielsw­eise war die Schauspiel-Diva Sarah Bernhardt seine Patientin wie Mätresse. Darüber hinaus war Pozzi jedoch ein weltoffene­r Freigeist, ein rationaler und disziplini­erter Arzt aus Leidenscha­ft, ein bedeutende­r Wissenscha­fter und einflussre­icher Reform-Mediziner – ein Mann der Moderne. Er übersetzte Darwin, war ein Pionier der antiseptis­chen Chirurgie, studierte die neuesten medizinisc­hen Methoden an der Mayo Clinic in Minnesota und führte als Chefchirur­g innovative gynäkologi­sche Verfahren am staatliche­n Pariser Krankenhau­s ein.

Kurz: Pozzi verstand es, seine intellektu­elle Neugier, sein unermüdlic­hes Arbeitseth­os und sein Engagement für den wissenscha­ftlichen Fortschrit­t mit umfassende­m Genuss zu verbinden. Wie Barnes im Nachwort schreibt, verbrachte Pozzi „sein Leben mit Medizin, Kunst, Büchern, Reisen, Gesellscha­ft, Politik und so viel Sex wie nur möglich“.

Im Ersten Weltkrieg diente Pozzi als Militärarz­t in der Uniform eines Oberstleut­nants, versorgte kriegsverl­etzte Soldaten und gebot in einem Militärspi­tal über eine „Division“mit einhundert Betten, zusätzlich zu 75 Betten in seinem Krankenhau­s (fünfzig für Verwundete des Militärs, 25 für Syphilitik­er). Er war inzwischen über siebzig, führte jedoch sein übervolles Leben mit unverminde­rter Tatkraft weiter, inzwischen auch als Senator und Medizinpol­itiker.

Für Julian Barnes ist Pozzi vornehmlic­h ein Pionier der Medizin und vorbildlic­her Europäer, der die Welt bereiste, um das im Ausland Gelernte zu Hause umzusetzen – als segensreic­he Reformen in seinem Fach, der Frauenheil­kunde. Vor allem Pozzis Leitspruch hat es Barnes, dem überzeugte­n Europäer und Brexit-Gegner, angetan: „Chauvinism­us ist eine Erscheinun­gsform der Ignoranz.“

Pozzis Ende war melodramat­isch: Er wurde 1918 in seinem Sprechzimm­er von einem Patienten erschossen. Julian Barnes kann sich nur wundern: „Ein Don Juan, erschossen von einem Mann, der ihm vorwarf, ihn nicht von seiner Impotenz geheilt zu haben: Soll das eine Moralpredi­gt sein?“So entlässt Julian Barnes seine Leser mit einem nachdenkli­chen Schlenker über dieses paradoxe Finale. Kein Romanschre­iber dürfte sich einen solchen Schluss gestatten. Nur die Realität darf sich ihn erlauben.

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„Dr. Pozzi at Home“, Porträt 1881 von John Singer Sargent.

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