Dr. Pozzi vereint Lust und Erfolg
Der britische Erzähler Julian Barnes stellt einen kunstsinnigen, europafreundlichen und charmanten Mediziner vor.
Das Bildnis ist spektakulär. Es zeigt in Lebensgröße einen attraktiven jungen Mann in einem bodenlangen scharlachroten Morgenmantel. Er steht vor dem Hintergrund eines schweren burgunderroten Vorhangs, während seine feingliedrigen Hände mit dem Gürtel und dem Kragen seines roten Rocks spielen. Der Society-Maler John Singer Sargent hat dieses Porträt im Jahr 1881 in Paris gemalt. Es trägt den Titel „Dr. Pozzi at Home“.
Wer bitte ist Dr. Pozzi? Zwar ist seine herrscherliche Allüre eine Anspielung auf das berühmte Porträt von Kardinal Richelieu in seiner roten Prunkrobe; doch Dr. Samuel Pozzi war nur ein bürgerlicher Pariser Arzt, Sohn eines protestantischen Pfarrers in Bergerac mit italienischen Wurzeln. Dank Talent und Tüchtigkeit machte er als Frauenarzt im Paris der Belle Époque Karriere und dank des Vermögens seiner Frau gelang ihm der Aufstieg in die höchsten Kreise der französischen Gesellschaft. Als Modearzt genoss er hohes Ansehen, und als Salonlöwe, Don Juan und Held der Boudoirs, der obendrein nach Ansicht der Prinzessin von Monaco auch noch „ekelhaft gut“aussah, feierte er verschwiegene Triumphe. Doch ohne sein hinreißendes Porträt wäre er heute wohl vergessen.
Zu Unrecht, fand Julian Barnes. Der britische Erzähler, Essayist und Frankreich-Liebhaber hat Pozzi wiederentdeckt und macht ihn zum Titelhelden seines jüngsten Buches „Der Mann im roten Rock“. Es ist das 24. Buch (und das achte NonFiction-Werk), das Barnes, der gerade 75 Jahre alt geworden ist, vorlegt, und es ist ein Meisterstreich.
Mit Pozzi als seinem Türöffner taucht er in seine historische Lieblingsepoche ein, in die französische Belle Époque, die üppigen Friedensjahre zwischen 1870 und 1914. Das Buch ist ein großer und reich illustrierter Plauder-Essay über eine Ära, es ist Barnes’ persönliche Meditation über dieses Zeitalter, das uns scheinbar so fern liegt und doch manche Parallelen zu heute aufweist. Barnes beschreibt das französische Fin de Siècle als ein nervöses Zeitalter voller politischer Instabilität, Krisen und Skandale und besessen von fast hysterischen nationalen Ängsten samt virulentem Juden- und Fremdenhass.
Er zeichnet die „dekadente, hektische, gewalttätige, narzisstische und neurotische Belle Époque“als großes gesellschaftliches, literarisches und künstlerisches Wimmelbild, ein Patchwork von Anekdoten, Klatsch und Tratsch, Eifersüchteleien, Streitereien und theatralischen Skandalen, von albernen Duellen
Belle Époque weist Parallelen zu heute auf
aus nichtigem Anlass und allerhand ästhetischen und sexuellen Exzessen, das Ganze durchsprenkelt mit Auftritten vieler berühmter und berüchtigter Prominenter der Epoche, von Maupassant und Sarah Bernhardt bis Oscar Wilde und Marcel Proust, dazu jede Menge dekadenter Aristokraten, Ästheten, Dandys, Snobs, Künstler und Exzentriker, die für die schillernde Optik dieses Zeitalters gesorgt haben.
Getarnt hinter dem leichten Plauderton verbirgt sich allerdings die gründliche Recherche des Autors, die auf Tagebüchern und Bekenntnissen von Zeitgenossen ebenso beruht wie auf Zeitungsartikeln, literarischen Zeugnissen und vielen Porträts und Fotografien der damals tonangebenden Akteure.
Dr. Pozzi ist eine kluge Wahl als Reiseführer in die Belle Époque, denn er war als Kunstsammler und Lebemann bestens vernetzt mit der Welt aristokratischer Ästheten und Künstler, in deren Kreisen er dank seiner gesellschaftlichen Talente wie Charme, Empathie und Taktgefühl überall gern gesehen war. In diesen Kreisen sammelte man Kunst, kostümierte sich extravagant, klatschte bösartig, hatte notorische Affären, malte Porträts, duellierte sich permanent, schrieb Schlüsselromane und frönte jedem denkbaren körperlichen Genuss.
Doch Pozzi war mehr als nur ein Modearzt, der gern mit seinen Patientinnen schlief – beispielsweise war die Schauspiel-Diva Sarah Bernhardt seine Patientin wie Mätresse. Darüber hinaus war Pozzi jedoch ein weltoffener Freigeist, ein rationaler und disziplinierter Arzt aus Leidenschaft, ein bedeutender Wissenschafter und einflussreicher Reform-Mediziner – ein Mann der Moderne. Er übersetzte Darwin, war ein Pionier der antiseptischen Chirurgie, studierte die neuesten medizinischen Methoden an der Mayo Clinic in Minnesota und führte als Chefchirurg innovative gynäkologische Verfahren am staatlichen Pariser Krankenhaus ein.
Kurz: Pozzi verstand es, seine intellektuelle Neugier, sein unermüdliches Arbeitsethos und sein Engagement für den wissenschaftlichen Fortschritt mit umfassendem Genuss zu verbinden. Wie Barnes im Nachwort schreibt, verbrachte Pozzi „sein Leben mit Medizin, Kunst, Büchern, Reisen, Gesellschaft, Politik und so viel Sex wie nur möglich“.
Im Ersten Weltkrieg diente Pozzi als Militärarzt in der Uniform eines Oberstleutnants, versorgte kriegsverletzte Soldaten und gebot in einem Militärspital über eine „Division“mit einhundert Betten, zusätzlich zu 75 Betten in seinem Krankenhaus (fünfzig für Verwundete des Militärs, 25 für Syphilitiker). Er war inzwischen über siebzig, führte jedoch sein übervolles Leben mit unverminderter Tatkraft weiter, inzwischen auch als Senator und Medizinpolitiker.
Für Julian Barnes ist Pozzi vornehmlich ein Pionier der Medizin und vorbildlicher Europäer, der die Welt bereiste, um das im Ausland Gelernte zu Hause umzusetzen – als segensreiche Reformen in seinem Fach, der Frauenheilkunde. Vor allem Pozzis Leitspruch hat es Barnes, dem überzeugten Europäer und Brexit-Gegner, angetan: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz.“
Pozzis Ende war melodramatisch: Er wurde 1918 in seinem Sprechzimmer von einem Patienten erschossen. Julian Barnes kann sich nur wundern: „Ein Don Juan, erschossen von einem Mann, der ihm vorwarf, ihn nicht von seiner Impotenz geheilt zu haben: Soll das eine Moralpredigt sein?“So entlässt Julian Barnes seine Leser mit einem nachdenklichen Schlenker über dieses paradoxe Finale. Kein Romanschreiber dürfte sich einen solchen Schluss gestatten. Nur die Realität darf sich ihn erlauben.