Vielfalt schlägt Einfalt – das ist doch logisch
Der wilde Mix in der Regierung des neuen Präsidenten Joe Biden ist für Unternehmen eine Inspiration.
Für das prüde Amerika, in dem Paare, die sich in der Öffentlichkeit küssen, getadelt werden und selbst in der Sauna Badekleidung getragen werden muss, ist die Personalauswahl ein Hammer: ein Schwuler, eine Transfrau, eine ehemalige Obdachlose, mehrere Farbige und Einwanderer – die designierten Minister und Staatssekretäre der Biden-Regierung in den USA sind eine Provokation für viele im Land. Und sie sind als schrilles Signal einer Systemkorrektur nach der Ära Trump zu verstehen, die sich ganz auf die Rückkehr des starken weißen Mannes konzentriert hatte.
Doch die Symbolkraft des wilden Personalmix im Kabinett geht weit über die Politik hinaus. Sie dient als Inspiration für die Wirtschaft, in der viele Unternehmen ratlos und eingeschüchtert die Wucht der Veränderung in den Märkten beobachten und sich fragen, wie sie den Wandel bewältigen sollen. „Nehmt euch den neuen alten weißen Mann an der
Spitze Amerikas als Vorbild“, möchte man ihnen zurufen. Der traut sich, Frauen und Männer zu engsten Mitarbeitern und Vertrauensleuten zu machen, die ganz anders ticken als er selbst, einen anderen Werdegang haben, ein anderes Privatleben führen und eine andere Sicht auf die Gesellschaft einbringen.
Dabei geht es um mehr als das Signal der Veränderung, das die bunte Regierungstruppe ausstrahlt: Eine Krise, die vieles infrage stellt, kann man nicht mit dem engen Denken von gestern bewältigen. „Wir brauchen jemanden, der so tickt wie wir.“So zu denken hat lang nicht geschadet, weil es Wachstum gab, das Geschäft gut lief und die Erstarrung, die sich Unternehmen damit unweigerlich eingekauft hatten, nicht auf die Zahlen durchschlug. Jetzt, da viele Geschäftsmodelle funktionslos wurden und unklar ist, ob es jemals wieder Nachfrage in der alten Form geben wird, beschleunigt einfältiges Denken den Untergang. Die lang geübte Zusammenrottung einander sehr ähnlicher Menschen in Vorständen und Aufsichtsräten führt zur Fortsetzung des ewig Gleichen: Der Fisch stinkt zuerst am Kopf.
„Holt euch die Provokateure an den Tisch!“Das ist die Botschaft, die vom Regierungswechsel in den USA ausgeht. Das heißt nicht, sich eine Fundamentalopposition im eigenen Haus aufzubauen. Doch Unternehmen tun gut daran, Sichtweisen aus anderen Branchen und Disziplinen und unterschiedlichen privaten Lebenswirklichkeiten über bewusst diverses Personal und Kooperation mit anderen Unternehmen hereinzuholen. Vielfalt schlägt Einfalt, das ist eigentlich logisch. Am besten beginnt man damit ganz oben in der Führungsetage.
Gertraud Leimüller leitet ein Unternehmen für Innovationsberatung in Wien und ist stv. Vorsitzende der Kreativwirtschaft Austria.
SN.AT/GEWAGTGEWONNEN