Brigitte Bierlein statt Sebastian Kurz?
Die Sehnsucht nach Experten statt Politikern an der Staatsspitze ist zwar verständlich, hält einem Realitätstest aber nicht wirklich stand.
Die irrlichternde Coronastrategie, der schleppende Impffortschritt, die allgemeine Pandemiemüdigkeit der meisten Menschen und – als wäre all das nicht genug – die wöchentlich aufpoppenden Skandale im Regierungsumfeld erwecken vielerorts Sehnsucht. Und zwar Sehnsucht nach einer ganz anderen Regierung, nach einer Regierung, die völlig frei von parteipolitischen Erwägungen, ausschließlich von nüchternen und sachlichen Gesichtspunkten geleitet, ihre Regierungsarbeit erledigt.
Diese Sehnsucht kommt nicht nur in Mitteilungen in den sogenannten sozialen Medien, sondern auch in zahlreichen Leserzuschriften an die SN zum Ausdruck. Laut tönt der Ruf nach einem Ende der Streitereien, die gerade auch in diesen Wochen, auf dem Höhepunkt der Pandemie, die politische Arbeit beeinträchtigen. Vielerorts regt sich Nostalgie nach der Regierung Brigitte Bierlein und ihrem Beamtenund Expertenkabinett, jenes Übergangskabinett, das Österreich ruhig und unaufgeregt durch die Untiefen des Ibiza-Jahres steuerte. Und immer wieder taucht die Forderung auf, der Bundespräsident möge doch unsere regierenden (Partei-)Politiker in die Wüste schicken und durch ausgewiesene Fachleute ersetzen.
Es ist kein Zufall, dass die Coronapolitik der Regierung rasant an Vertrauen im Wahlvolk verliert. Und es ist kein Zufall, dass im jüngsten APA/OGM-Vertrauensindex ausgerechnet der neue Arbeitsminister Martin Kocher als beliebtestes Regierungsmitglied gereiht wurde. Kocher hat mit Parteipolitik nichts am Hut, er machte sich als Experte einen Namen, hält sich aus tagespolitischen Streitereien heraus und geht ruhig seiner Regierungsarbeit nach. Auch Heinz Faßmann und Leonore Gewessler – zwei seriöse Experten, die erst spät in die Politik gefunden haben – rangieren im Vertrauensindex weit vorn.
Die Sehnsucht nach ausschließlich Experten statt Politikern an der Staatsspitze ist verständlich. Dies vor allem angesichts der Darbietungen, die Politiker in den vergangenen Wochen geboten haben. Es waren Politiker und nicht Experten, die auf EU- und Österreich-Ebene die Impfkampagne vermasselt haben. Es sind Politiker und nicht Experten, die jüngst wieder einmal beim Postenschachern und beim Austausch unappetitlicher Handynachrichten erwischt wurden. Es sind Politiker und nicht Experten, die den Bürgern seit einem Jahr ein nicht mehr wirklich nachvollziehbares Regime aus weichen, mittleren und harten Lockdowns zumuten. Es sind (manche) Politiker und nicht Experten, die in der Regierung und auf den
Oppositionsbänken mitunter ein Bild der Überforderung bieten.
Die Frage ist nur: Hätte es ein reines Expertenkabinett besser gemacht? Diese Frage ist wohl mit einem Nein zu beantworten.
Denn in einer Krisenzeit kommt es nicht nur darauf an, das Richtige zu wollen, sondern dieses Richtige auch durchzusetzen: Gegen widerborstige Landeshauptleute. Gegen mächtige Kammerpräsidenten und Seilbahnkaiser. Und nicht zuletzt gegen eine Öffentlichkeit, in der der Verdruss über die lange Dauer der Pandemie rasant zunimmt.
Richtig, der amtierenden Bundesregierung sind bei der Pandemiebekämpfung jede Menge schwerer Fehler und Pannen passiert, und oft genug ist es Kurz & Co nicht gelungen, sich gegen all die Landeskaiser und Bedenkenträger durchzusetzen. Oft haben sie das wohl nicht einmal ernsthaft versucht. Doch nichts deutet darauf hin, dass dies einer „unpolitischen“, aus Virologen und Medizinern und ehemaligen Gerichtspräsidentinnen bestehenden Regierung besser gelungen wäre. Eher im Gegenteil: Denn während eine parteipolitisch ungebundene Expertenund Beamtenregierung sich nicht einmal auf eine Parlamentsfraktion als natürliche
Verbündete stützen könnte, hat die amtierende Regierung immerhin die Parlamentsmehrheit im Rücken, was ihre Durchsetzungsmöglichkeiten doch deutlich erweitert. Dazu kommt der Umstand, dass Sebastian Kurz und Werner Kogler die relativ unumstrittenen Chefs ihrer jeweiligen Parteien sind – auch das gibt ihnen Einflussmöglichkeiten, die weit über die engere Regierungssphäre hinausgehen. Und auch dass die pandemiemäßig besonders geforderten Regierungsmitglieder Kurz, Kogler, Anschober und Nehammer das politische Handwerk von der Pike auf gelernt haben und die Innenpolitik mit all ihren Verästelungen aus dem Handgelenk beherrschen, ist in einer Zeit, in der rasches und entschiedenes Handeln erforderlich ist, ein entscheidender Vorteil.
Daher: Bei allem Ärger, den die Parteipolitiker oftmals bereiten, bei allen sinnlosen Polemiken, mit denen einander die Parteien regelmäßig eindecken, bei allem Postengeschacher, der offenbar zur Parteipolitik gehört wie Frostbeulen zum Winter: Ganz ohne Parteipolitik und die dazugehörigen Parteipolitiker wird’s an der Spitze des Staates wohl nicht gehen.
ANDREAS.KOLLER@SN.AT