Ukraine kämpft auf verlorenem Posten
Der ukrainische Präsident Selenskyj findet keine Mittel im Ringen mit Russland. Plant Kremlchef Putin eine weitere schleichende Annexion?
Wolodymyr Selenskyj stapft durch den Matsch im ostukrainischen Donbass. Der Stahlhelm sitzt so fest auf dem Kopf, wie die schusssichere Weste den Brustkorb umschließt. Der Präsident ist zugleich Oberbefehlshaber der Armee, und er ist gekommen, um bei seinen Soldaten „den Kampfgeist zu stärken“. Denn seit Ende März wird im Donbass wieder vermehrt geschossen.
Im Westen der Frontlinie stehen reguläre ukrainische Truppen. Auf östlicher Seite kämpfen separatistische Milizen, die aus dem nahen russischen Hinterland mit Waffen versorgt werden: mit Panzern, Raketenwerfern und Präzisionsgewehren. Kürzlich erst haben Scharfschützen vier ukrainische Soldaten getötet. „Menschen“, sagt Selenskyj und fügt dann hinzu: „Helden“.
Mit 43 Jahren wirkt der Präsident auf den Fernsehbildern keineswegs alt, aber doch gealtert. Dabei ist es erst zwei Jahre her, dass der Senkrechtstarter die Welt in Staunen versetzte. Der politisch völlig unbefleckte TV-Komiker gewann im April 2019 nicht einfach nur die Präsidentenwahl. Mit 73 Prozent schlug der Amateur den mächtigen Amtsinhaber Petro Poroschenko geradezu vernichtend. Dabei war das Geheimnis des Erfolgs denkbar einfach. Selenskyj war neu. Er gehörte nicht zu jener mafiosen Kaste aus Oligarchen und Politpaten, die der noch jungen Ukraine eine Krise nach der anderen beschert hatten. Er versprach, alles anders zu machen. Vor allem dies: „Unsere erste Aufgabe wird es sein, den Krieg im Donbass zu beenden.“Für Frieden mit Russland werde er alles opfern, auch Amt und Ansehen.
Doch von den hehren Plänen ist wenig geblieben. Heute steht Selenskyj auf ähnlich verlorenem Posten wie einst Poroschenko. Per Twitter-Botschaft fordert er den schnellen Beitritt der Ukraine zur
NATO. Das sei „der einzige Weg, den Krieg zu beenden“. Die Reaktionen in Brüssel, Berlin und Paris bleiben verhalten. Die USA kündigten immerhin an, zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu entsenden. Von „unerschütterlicher Unterstützung“ist die Rede. Aber von einem militärischen Schutz durch den Westen kann keine Rede sein. Das weiß auch Selenskyj, als er beim Frontbesuch durch die Schützengräben des Donbass marschiert.
Vor ziemlich genau sieben Jahren gab es hier die ersten Toten dieses Kriegs, der mittlerweile mehr als 13.000 Menschenleben gefordert hat. Am 13. April 2014 ordnete das Innenministerium in Kiew eine „Anti-Terror-Operation“in den Regionen Donezk und Luhansk an, wo prorussische Separatisten die Macht an sich zu reißen versuchten. So wie zuvor auf der Krim. Im Eiltempo hatte Moskau im März die Schwarzmeer-Halbinsel annektiert. Das sollte sich im Donbass nicht wiederholen. Also rollten ukrainische Panzer.
Allerdings gab es damals, nach der prowestlichen Maidan-Revolution, nur eine provisorische Regierung in Kiew. Als Poroschenko im Mai zum Präsidenten gewählt wurde, hatten die kremltreuen Separatisten in Donezk und Luhansk bereits eigene „Volksrepubliken“ausgerufen. Dabei blieb es. Die Milizen kontrollieren die Region bis heute, dank umfassender Unterstützung aus Russland. Auch Selenskyj hat längst begriffen, dass die Entscheidung über die Zukunft des Donbass in Moskau fällt. Bei seinem Amtsantritt hatte er noch verkündet, die ganze Sache „unter vier Augen“mit Kremlchef Wladimir Putin klären zu wollen. Doch der starke Mann in Moskau ignorierte den Neuen in Kiew.
Mehr noch: Russland begann damals, Pässe an die Bevölkerung in den „Volksrepubliken“auszugeben. Fast eine halbe Million von rund sechs Millionen Menschen im Donbass haben bislang zugegriffen, obwohl die Region völkerrechtlich zur Ukraine gehört. Das bestreitet auch der Kreml nicht. Bislang. Dennoch verteilt Moskau nicht nur Pässe, sondern lässt für Renten und Beamtengehälter den Rubel rollen. All das nährt in der Ukraine die Sorge, Putin könnte doch bald Fakten schaffen. Völkerrecht hin oder her. So wie damals auf der Krim. Oder wie 2008 in Georgien. In einem kurzen Krieg um die Region Südossetien drang das russische Militär bis weit nach Georgien vor. Für den Friedensschluss musste Tiflis einen hohen Preis zahlen: den faktischen Verlust seiner territorialen Einheit.
Russland erkannte damals die Regionen Südossetien und Abchasien als unabhängig an und betreibt seither eine schleichende „militärische und wirtschaftliche Annexion“, wie es die Kaukasus-Kennerin Marion Kipiani formuliert. Ein ähnliches Szenario halten Fachleute auch im Donbass für denkbar. Zumal seit Ende März fast täglich neue Bilder und Berichte auftauchen, die von einer massiven Verstärkung der russischen Truppen am Nordrand des Schwarzen Meeres zeugen. Ganze Züge voller Panzer rollen durch die Region. Der Kreml gibt sich nicht einmal die Mühe, zu dementieren.