Wie ein Lebenswerk entsteht
Die 50. Rauriser Literaturtage boten die Möglichkeit, über Neuerscheinungen hinauszublicken.
Wenn Michael Köhlmeier auf den jungen Mann zurückblickt, der er einmal gewesen ist, steht er ihm zwar nah, fremd ist er ihm dennoch. Alles, was mit einem Menschen auf der Lebensstrecke passiert, wirkt sich aus auf seine Literatur. Deshalb haben das erste und das letzte Buch oft kaum noch etwas miteinander zu tun, wenn der Anfang auch notwendig ist für die weitere Entwicklung. In seinem Debüt „Der Peverl Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf“kommt der Fantasie die Hauptrolle zu, wenn das Unglaubliche und Unwahrscheinliche sich selbstverständlich seinen Platz im Leben einer Figur vom Typus Schelm nimmt. Ohne eine ausufernde Fantasie geht bei Köhlmeier bis heute nichts, sie ist aber an Geschichte und Zeitgeschichte gebunden. Der im Herbst erscheinende Roman „Matou“erzählt von einer Katze, die bekanntermaßen sieben Leben aufweist und so durch Zeiten und Räume quer durch die Geschichte kommt.
Die 50. Rauriser Literaturtage, kenntnisreich kuratiert von Ines Schütz und Manfred Mittermayer, bieten Anlass, über aktuelle Neuerscheinungen hinauszublicken und sich auf den Werkprozess zu konzentrieren. Judith Kuckart, die mit ihrem Roman „Wahl der Waffen“von 1990 den Rauriser Literaturpreis zugesprochen bekam, berichtet, dass sie damals, als sie noch mit Schreibmaschine gearbeitet hat, „mit ganz großer Unschuld“ans Werk gegangen sei. Die Unbekümmertheit von damals hat sich verflüchtigt, dabei nahm sie sich ein großes Thema vor, sie beschäftigte sich mit der Roten Armee Fraktion. „Heute gibt es dieses Gefühl von Unzulänglichkeit.“
„Eigentlich ist Zeitgeschichte in allen Büchern drin“, sagt sie. „Jetzt spielt alles mehr in der Gegenwart, Geschichte ist eine Atmosphäre, die in die Gegenwart hineinzieht. Zeitgeschichte ist bei mir etwas, das sich in den Körpern der Leute zeigt und in ihren individuellen Schicksalen. Wie sich jemand zeigt, wie sich seine Haut anfühlt, ist nicht nur eine individuelle Geschichte, das hat mit Zeitgeschichte zu tun. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und meinen Verwandten sehe ich an, dass sie aus der Industriezeit kommen, auch wenn sie nicht mehr unter Tage sind. Was mich an Zeitgeschichte interessiert, ist das Moment der Arbeit. Wie viel Arbeit braucht man noch. Das ist eine Form von Zeitgeschichte, die auf die Zukunft guckt.“
Der Schweizer Peter Stamm arbeitet anders. Geschichte hat für ihn, dessen Land vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben ist, einen anderen Stellenwert. „Für mich war das nie ein großes Thema. Ich finde die gesättigte Gesellschaft auch einen interessanten Ort.“Kollektivschuld, von der Kuckart redet, gibt es für ihn nicht. Diese Ansicht teilt er mit vielen Schweizern. Während die Deutschen sich literarisch mit den Verbrechen der Nazis abmühten, schrieb Max Frisch ein Buch über Wilhelm Tell, eine zur Legende geronnene Figur aus den Tiefen der Geschichte. Stamm: „Für mich stellt sich die Frage nach der Dringlichkeit, ob ich Geschichten finde, die so bewegen, dass ich daraus Literatur mache und nicht nur Geschichten schreibe. Natürlich schreibst du mit 30 viel beteiligter oder aufgeregter. Ich will nicht Ein-älterer-Mann-erinnert-sichan-seine-frühere-Zeit-Bücher schreiben.“
In ihrer Schreibhaltung unterscheiden sich Kuckart und Stamm deutlich. Sie wird immer aufgeregter, er immer gelassener. Bei Kuckart spielt die Gesellschaft eine Rolle, bei Stamm, wie bei so vielen Schweizern, das Individuum, bevorzugt ein solches, das nicht wie gewünscht funktioniert. Gesellschaft ist allenfalls notwendig als Hintergrund, um den Kontrast zu zeigen. Das war schon in Stamms Debüt „Agnes“(Rauriser Literaturpreis 1999) so, einer komplizierten Liebesgeschichte. Dieser unterschiedliche Zugang zu Stoffen hat für Stamm seine Gründe: „Das hängt mit den unterschiedlichen Diskursen zusammen. In Deutschland wird viel mehr geredet, bei uns bleibt mehr an der Oberfläche. Wir haben nicht diese Debattenkultur. In Deutschland geht es oft weniger um Problemlösung als um Kampf, um Empörung.“
Die Veranstaltungen der Rauriser Literaturtage 2021 sind in gestreamter Form verfügbar. Grund genug, sich umzusehen.