Größer als das Klavier
Er kämpft mit Rappern gegen rechts, findet über Eminem zum Ich und wird zum Pionier der Konzertstreams im Lockdown. Wie tickt Igor Levit?
Wäre dieses Buch eine Netflix-Serie, würde folgende Szene einen dramaturgischen Höhepunkt bilden: Igor Levit, ein 17-Jähriger mit einem zweiten Preis beim Maria-Callas-Wettbewerb im Gepäck, spielt dem großen Grigory Sokolov vor. Dem jungen Pianisten winkt ein Karriereschub. Doch Klaviergott Sokolov nimmt ihn nach allen Regeln der Kunst auseinander. „Er schlug mir vor, ein anderes Instrument zu lernen“, berichtet Igor Levit. „Wie wäre es mit Flöte?“
Es sind Niederlagen wie diese, die Schlüsselmomente in der Karriere von Igor Levit bilden. Der Pianist gibt nicht einfach auf. Er wächst mit jedem Scheitern, arbeitet beständig an sich und seinem Spiel. Auch als Daniel Barenboim ihm später sagen wird: „Werden Sie mal erwachsen.“
Der harte Weg eines Unbequemen zum Weltklassepianisten, das eignet sich ideal für eine Biografie. „Hauskonzert“entsteht in Zusammenarbeit mit dem Journalisten Florian Zinnecker, der Igor Levit ein Jahr lang begleitet – ausgerechnet im Coronajahr. „Wir wussten es nicht besser“, schreibt Zinnecker. Der Journalist, wie Igor Levit ein Mittdreißiger, findet den richtigen Ton, den richtigen Rhythmus. Seine Erzählform wird nicht nur dem Klavierspiel Igor Levits gerecht, sondern auch dessen präzisem Einsatz verbaler Kommunikation. Was Levit sagt, wie er dafür soziale Netzwerke
nutzt, das macht einen Teil seiner Persönlichkeit aus. Igor Levit ist kein Musiker, der ausschließlich sein künstlerisches Schaffen für sich sprechen lässt. Er engagiert sich politisch, nutzt Twitter als Ventil für die Wut über Trump, Brexit oder rassistische Polizeigewalt. Igor Levit sieht sich als kritischen Bürger, seine Tweets führen zu Morddrohungen.
Sein Kampf gegen die neuen Rechten in Deutschland ist bekannt. Manches liest sich in den Feuilletons verkürzt. In „Hauskonzert“erzählt er ausführlich über seine Erlebnisse mit den Spielarten des Antisemitismus. Angefangen hat es mit einem Juristen, der Igor Levit vorgeworfen hat, schwer vermarktbar zu sein. Schließlich gehöre er zu einer Bevölkerungsgruppe, die zwar hier lebe, die hier zu leben aber nie vorgesehen gewesen sei. „Der Satz war der Versuch einer Auslöschung“, sagt Levit. Dieses Nicht-sein-Dürfen sei „der wesentliche psychisch wunde Punkt in meinem Leben“.
Mit Fortdauer der Lektüre taucht man tief in die Gedankenwelt Igor Levits ein. Wie er tickt. Warum er sich schlecht fühlt, wenn er im Bundestag auch vor AfD-Abgeordneten auftritt. Musik werde „ein Arschloch nicht zu einem weniger großen Arschloch machen“, sagt er. Warum soll man dann überhaupt Musik machen? Sein Leben dieser Kunst widmen, bis zu 16 Stunden pro Tag? Die Antwort gibt das Spiel Igor Levits, dessen so maßgebliche Beethoven-Interpretationen, aber auch sein Faible für symphonische Riesengebilde, die „größer als die 88 Tasten des Klaviers“seien.
Sein ureigenes Tun, sein von Unmittelbarkeit geprägter Zugang zur Musik erhält genügend Platz in diesem Buch. Auch wenn er über viele Phasen seines Lebens sagt: „Ich erinnere mich nicht an mich.“Dann springen andere in die Bresche, etwa seine Mutter Elena, die Klavierpädagogin aus Gorki, die 1995 mit ihrer Familie nach Hannover zieht – auf Einladung eines Kollegen, der den Achtjährigen auf einer Aufnahme gehört hat. „Ich bin den Weg mit Igor zusammen gegangen“, erzählt sie, „ich bin mit Igor pianistisch gewachsen.“
An seinem 33. Geburtstag sagt der Pianist nach einem Konzertauftritt: „Man spürt, dass etwas zu Ende geht.“Tags darauf befindet sich Deutschland im Lockdown. Igor Levit fährt in den Elektromarkt, erwirbt ein Smartphone-Stativ und gibt am Abend sein erstes TwitterHauskonzert. Er wird damit zum Pionier, heute streamen alle.
Im Lockdown taucht Igor Levit in die Musik seiner Jugend ein: Westcoast-Rap von Dr. Dre und Snoop Dogg, feinster Stoff. Er schildert, dass ihn als Teenager ausgerechnet Eminem gelehrt habe: „Ich will ,ich‘ sagen dürfen.“In dieser Zeit befreit sich Igor Levit aus den Fesseln eines Klavierlehrers und reift zum selbstbestimmten Künstler heran.
Die politische Sprengkraft des Sprechgesangs nutzt Igor Levit auch heute noch, wenn er – wie am vergangenen Freitag – den Rapper Danger Dan in Jan Böhmermanns TV-Show am Flügel begleitet. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“heißt dessen Protestsong gegen Antisemitismus.
Als Solist tritt Levit dieser Tage via Twitter in Erscheinung. Da-Da Da-Da Da-Da Daaaa. Genau: der Ententanz. Was wohl Grigory Sokolov dazu sagen würde?
„Ich sage nie: Scheiße, ich bin abgestürzt. Sondern: Ich will noch höher.“
Igor Levit, in „Hauskonzert“