Ein scheuer Maler wandert zwischen Welten
Lyonel Feininger, bedeutender Künstler des 20. Jahrhunderts, wurde vor 150 Jahren geboren.
Vielleicht war es gar nicht verkehrt, dass die Eltern kaum Zeit für ihn gehabt hatten. Andernfalls wäre Lyonel Feininger womöglich in einem Orchester versauert oder wie sein Vater als Sologeiger durch die Lande gezogen, statt zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts zu werden. Das gelang ihm durch ein nonchalantes Vermitteln zwischen gegenständlicher Maltradition und abstraktem Aufbruch sowie zwischen Romantik und Kubismus.
Der am 17. Juli 1871 in New York geborene Carl Léonell Feininger hat zudem das Bauhaus mitgeprägt – nicht als lautstarker Anführer, sondern auf tolerante, unkonventionelle Weise. Er war der am längsten dort agierende Meister: Walter Gropius hatte ihn als einen der Ersten an die 1919 gegründete Reformschule nach Weimar geholt. Feininger blieb bis zur 1933 durch die Nationalsozialisten erzwungenen Schließung.
Hunderte Künstlerinnen und Künstler gingen durch seine Grafikwerkstatt. Und unzählige Museumsbesucher sahen seine Kunst: Jede Institution, die in den 1920erJahren am Puls der Zeit sammelte, kaufte Feiningers Bilder. Doch ab 1937 waren viele seiner Werke als „Entartete Kunst“verfemt. Trotzdem wollte er nicht wahrhaben, dass in diesem Deutschland kein Platz für „Moderne“wie ihn war – noch weniger für Julia, seine Frau mit jüdischen Wurzeln. Im Jahr zuvor hatte er trotz Julias Einwand darauf bestanden, nach einem Sommerkurs am kalifornischen Mills
College nach Berlin zurückzukehren.
Der Historiker und FAZ-Redakteur Andreas Platthaus bringt mit einer fantastisch recherchierten neuen Feininger-Biografie Licht in diese eigentümliche Lebensphase. Da ist das weltfremd Introvertierte dieses Mannes, der sich auf die Malerei konzentriert, die er sich abgerungen hat. Da sind die Erfolge in der Alten Welt, die er nicht gegen die Ungewissheit in den USA eintauschen will. 1931 hatte ihm die Nationalgalerie in Berlin zum sechzigsten Geburtstag eine fulminante Retrospektive ausgerichtet. Und da ist auch die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die er von klein auf in der Familie eingesogen hat.
Sein Vater Karl war 1844 noch im badischen Durlach geboren, bevor dessen Eltern vier Jahre später mit ihm nach South Carolina auswanderten. Die Ausbildung zum Geiger erhielt er in der deutschen Heimat. Mutter Elisabeth Lutz, eine Konzertpianistin und Sängerin, kam zwar in den USA zur Welt, doch in der Familie aus dem pfälzischen
Lingenfeld wurde Deutsch gesprochen. Karl und Elisabeth zogen nach der Heirat 1870 nach Manhattan und pflegten die Kultur des deutschen Bildungsbürgertums – mit den Hausgöttern Bach, Beethoven, Schumann, Schubert und Mendelssohn. Später erinnert sich Feininger an „Wellen des Wohlgefallens“beim Hören dieser Musik. Zunächst wollte er Geiger werden, für sein Studium kam nur Deutschland infrage: das renommierte Konservatorium in Leipzig.
Für den 16-Jährigen war alles arrangiert, als er per Schiff in Hamburg eintraf. Nur hatte der vorgesehene Lehrer Leipzig auf unbestimmte Zeit verlassen. Die Eltern waren auf Konzerttour in Brasilien und ließen ihn gewähren, als er die Wartezeit an der Kunstgewerbeschule überbrückte. Léonell kam auf den Geschmack, wechselte nach Berlin an die Kunstakademie und machte von sich reden: als Karikaturist für Zeitschriften wie „Ulk“oder die „Humoristischen Blätter“. Für die „Chicago Sunday Tribune“entwarf er eine Comicreihe über drei Kinder, die auf der Flucht vor ihrer autoritären Tante schnell einmal die Welt umrunden.
1905 lernte Feininger die Kunststudentin Julia Berg beim Ostseeurlaub kennen, verliebte sich Hals über Kopf – obwohl beide verheiratet waren und Feininger mittlerweile sogar Vater von zwei Töchtern war. Julia verstand den vergrübelten Einzelgänger, bestärkte ihn, es mit der Malerei zu versuchen.
Der Karikaturist Feininger hatte die Trennung von der ersten Ehepartnerin übrigens als gereimte Bildergeschichte in den „Lustigen Blättern“öffentlich gemacht, indem er sich als amerikanischen Dandy mit Frau und Kindern zeichnete. Das offenbart sein Wesen: Der scheue Künstler, der fast keine eigene Ausstellungseröffnung besuchen sollte, konnte sich voller Esprit auf die Schippe nehmen. Das schätzten auch seine Schüler am Bauhaus und später am kalifornischen Mills College – die zweite Einladung 1937 wurde zur Rettung für das Paar.
Wie innig, ja symbiotisch die Beziehung der beiden war, lässt sich in soeben veröffentlichen Briefen unter dem Titel „Sweetheart, es ist alle Tage Sturm“nachvollziehen. Ihre Nachrichten ließ Julia leider sperren, aber Lyonel schrieb zwischen 1905 und 1935 rund 850 leidenschaftliche Briefe an sein „dearest
Girlie“, ohne das er „nicht zu leben imstande wäre“. Die talentierte Frau stellte die eigene Karriere zurück, machte ihm Mut, fuhr mit nach Paris – die kubistischen Bilder von Picasso und Braque imponierten Feininger. Zudem hat Julia ihn gemanagt und beraten, sich um Galeristen, Ausstellungen und um drei gemeinsame Söhne gekümmert.
Lyonel Feininger war Mitte 30, als er sich der Malerei zuwandte. Sogleich entwickelte er seinen charakteristischen „Prisma-Stil“: Er konstruiert seinen Bildraum geometrisch und aus transparenten, kristallinen Farben. Er konzentriert sich auf wenige Objekte und übersteigert sie, verlängert über die Körper hinaus Linien und Farben – wie ein Nachklang aus der Zeit als Karikaturist. Er verwebt Vorder- und Hintergrund, seine Häuser, Kirchen, Landschaften wirken wie im Zerrspiegel. Das verleiht eine unwirkliche, ferne Atmosphäre, unterstrichen von einem skurrilen Personal.
In seinen letzten zwanzig Jahren, die er eingeigelt mit seiner Frau in einem Zweizimmer-Appartement in Manhattan verbrachte, wurde er nicht mehr heimisch. Das einzige Bild, das er ein paar Monate vor seinem Tod am 13. Jänner 1956 vollendet hat, zeigt eine Giebellandschaft aus Deutschland.