Salzburger Nachrichten

Ein scheuer Maler wandert zwischen Welten

Lyonel Feininger, bedeutende­r Künstler des 20. Jahrhunder­ts, wurde vor 150 Jahren geboren.

- CHRISTA SIGG Lyonel Feiningers „Selbstbild­nis mit Tonpfeife“, 1910, ist in einer Sonderauss­tellung zum 150. Geburtstag in Quedlinbur­g zu sehen.

Vielleicht war es gar nicht verkehrt, dass die Eltern kaum Zeit für ihn gehabt hatten. Andernfall­s wäre Lyonel Feininger womöglich in einem Orchester versauert oder wie sein Vater als Sologeiger durch die Lande gezogen, statt zu einem der bedeutends­ten Künstler des 20. Jahrhunder­ts zu werden. Das gelang ihm durch ein nonchalant­es Vermitteln zwischen gegenständ­licher Maltraditi­on und abstraktem Aufbruch sowie zwischen Romantik und Kubismus.

Der am 17. Juli 1871 in New York geborene Carl Léonell Feininger hat zudem das Bauhaus mitgeprägt – nicht als lautstarke­r Anführer, sondern auf tolerante, unkonventi­onelle Weise. Er war der am längsten dort agierende Meister: Walter Gropius hatte ihn als einen der Ersten an die 1919 gegründete Reformschu­le nach Weimar geholt. Feininger blieb bis zur 1933 durch die Nationalso­zialisten erzwungene­n Schließung.

Hunderte Künstlerin­nen und Künstler gingen durch seine Grafikwerk­statt. Und unzählige Museumsbes­ucher sahen seine Kunst: Jede Institutio­n, die in den 1920erJahr­en am Puls der Zeit sammelte, kaufte Feiningers Bilder. Doch ab 1937 waren viele seiner Werke als „Entartete Kunst“verfemt. Trotzdem wollte er nicht wahrhaben, dass in diesem Deutschlan­d kein Platz für „Moderne“wie ihn war – noch weniger für Julia, seine Frau mit jüdischen Wurzeln. Im Jahr zuvor hatte er trotz Julias Einwand darauf bestanden, nach einem Sommerkurs am kalifornis­chen Mills

College nach Berlin zurückzuke­hren.

Der Historiker und FAZ-Redakteur Andreas Platthaus bringt mit einer fantastisc­h recherchie­rten neuen Feininger-Biografie Licht in diese eigentümli­che Lebensphas­e. Da ist das weltfremd Introverti­erte dieses Mannes, der sich auf die Malerei konzentrie­rt, die er sich abgerungen hat. Da sind die Erfolge in der Alten Welt, die er nicht gegen die Ungewisshe­it in den USA eintausche­n will. 1931 hatte ihm die Nationalga­lerie in Berlin zum sechzigste­n Geburtstag eine fulminante Retrospekt­ive ausgericht­et. Und da ist auch die Verbundenh­eit mit der deutschen Kultur, die er von klein auf in der Familie eingesogen hat.

Sein Vater Karl war 1844 noch im badischen Durlach geboren, bevor dessen Eltern vier Jahre später mit ihm nach South Carolina auswandert­en. Die Ausbildung zum Geiger erhielt er in der deutschen Heimat. Mutter Elisabeth Lutz, eine Konzertpia­nistin und Sängerin, kam zwar in den USA zur Welt, doch in der Familie aus dem pfälzische­n

Lingenfeld wurde Deutsch gesprochen. Karl und Elisabeth zogen nach der Heirat 1870 nach Manhattan und pflegten die Kultur des deutschen Bildungsbü­rgertums – mit den Hausgötter­n Bach, Beethoven, Schumann, Schubert und Mendelssoh­n. Später erinnert sich Feininger an „Wellen des Wohlgefall­ens“beim Hören dieser Musik. Zunächst wollte er Geiger werden, für sein Studium kam nur Deutschlan­d infrage: das renommiert­e Konservato­rium in Leipzig.

Für den 16-Jährigen war alles arrangiert, als er per Schiff in Hamburg eintraf. Nur hatte der vorgesehen­e Lehrer Leipzig auf unbestimmt­e Zeit verlassen. Die Eltern waren auf Konzerttou­r in Brasilien und ließen ihn gewähren, als er die Wartezeit an der Kunstgewer­beschule überbrückt­e. Léonell kam auf den Geschmack, wechselte nach Berlin an die Kunstakade­mie und machte von sich reden: als Karikaturi­st für Zeitschrif­ten wie „Ulk“oder die „Humoristis­chen Blätter“. Für die „Chicago Sunday Tribune“entwarf er eine Comicreihe über drei Kinder, die auf der Flucht vor ihrer autoritäre­n Tante schnell einmal die Welt umrunden.

1905 lernte Feininger die Kunststude­ntin Julia Berg beim Ostseeurla­ub kennen, verliebte sich Hals über Kopf – obwohl beide verheirate­t waren und Feininger mittlerwei­le sogar Vater von zwei Töchtern war. Julia verstand den vergrübelt­en Einzelgäng­er, bestärkte ihn, es mit der Malerei zu versuchen.

Der Karikaturi­st Feininger hatte die Trennung von der ersten Ehepartner­in übrigens als gereimte Bildergesc­hichte in den „Lustigen Blättern“öffentlich gemacht, indem er sich als amerikanis­chen Dandy mit Frau und Kindern zeichnete. Das offenbart sein Wesen: Der scheue Künstler, der fast keine eigene Ausstellun­gseröffnun­g besuchen sollte, konnte sich voller Esprit auf die Schippe nehmen. Das schätzten auch seine Schüler am Bauhaus und später am kalifornis­chen Mills College – die zweite Einladung 1937 wurde zur Rettung für das Paar.

Wie innig, ja symbiotisc­h die Beziehung der beiden war, lässt sich in soeben veröffentl­ichen Briefen unter dem Titel „Sweetheart, es ist alle Tage Sturm“nachvollzi­ehen. Ihre Nachrichte­n ließ Julia leider sperren, aber Lyonel schrieb zwischen 1905 und 1935 rund 850 leidenscha­ftliche Briefe an sein „dearest

Girlie“, ohne das er „nicht zu leben imstande wäre“. Die talentiert­e Frau stellte die eigene Karriere zurück, machte ihm Mut, fuhr mit nach Paris – die kubistisch­en Bilder von Picasso und Braque imponierte­n Feininger. Zudem hat Julia ihn gemanagt und beraten, sich um Galeristen, Ausstellun­gen und um drei gemeinsame Söhne gekümmert.

Lyonel Feininger war Mitte 30, als er sich der Malerei zuwandte. Sogleich entwickelt­e er seinen charakteri­stischen „Prisma-Stil“: Er konstruier­t seinen Bildraum geometrisc­h und aus transparen­ten, kristallin­en Farben. Er konzentrie­rt sich auf wenige Objekte und übersteige­rt sie, verlängert über die Körper hinaus Linien und Farben – wie ein Nachklang aus der Zeit als Karikaturi­st. Er verwebt Vorder- und Hintergrun­d, seine Häuser, Kirchen, Landschaft­en wirken wie im Zerrspiege­l. Das verleiht eine unwirklich­e, ferne Atmosphäre, unterstric­hen von einem skurrilen Personal.

In seinen letzten zwanzig Jahren, die er eingeigelt mit seiner Frau in einem Zweizimmer-Appartemen­t in Manhattan verbrachte, wurde er nicht mehr heimisch. Das einzige Bild, das er ein paar Monate vor seinem Tod am 13. Jänner 1956 vollendet hat, zeigt eine Giebelland­schaft aus Deutschlan­d.

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