Störfaktor Psychologie an der Börse
Oft unterschätzt, manchmal überbewertet – der „menschliche Faktor“spielt eine sehr große Rolle an den Finanzmärkten. Allerdings fast nie zum Vorteil der Anleger. Experten grübeln, wie man das in den Griff bekommen kann.
„Die Börse reagiert gerade einmal zu zehn Prozent auf Fakten. Alles andere ist Psychologie“, so lautet ein Bonmot des erfolgreichen Börsespekulanten und Autors André Kostolany (1906–1999). In die gleiche Richtung geht sein Satz „Tendenz ist gleich Liquidität mal Psychologie“. Das hieße in letzter Konsequenz, dass Fakten und Zahlen an der Börse so gut wie irrelevant wären. Das ist natürlich maßlos übertrieben. Und doch liegt gerade auch in dieser Übertreibung ein gewisser Wahrheitsgehalt. Börsenkurse sind keine wissenschaftlichen Bewertungen, sie spiegeln die Stimmung der Anleger wider. Und die sind oft wenig rational, manchmal
Wolfgang Pinner, Börsenexperte
sogar irrational. Man könnte auch sagen, die Börse ist ein Übertreibungskünstler.
Für den Aktienmarktexperten Wolfgang Pinner sind Charts, statistische Darstellungen von Kursverläufen, überhaupt eine Art Psychogramm, ein Abbild der Börsenpsychologie. „Ich kann darin Übertreibungen, Verstärkerprozesse, kognitive Anpassungen oder auch Panik ablesen“, sagt er – durch sogenannte Umkehrformationen, steiler ansteigende oder abfallende Kursverläufe oder jähe Umkehrungen.
Verantwortlich dafür ist in der Regel die Psychologie. Dass sie ein maßgeblicher Faktor an den Aktienmärkten ist, zeigt sich schon an einer simplen Tatsache. Langjährige Statistiken zeigen, dass Börsenhändler oft zwar richtig einschätzen können, ob eine Aktie kurzfristig steigen oder fallen wird, dass sie aber regelmäßig bei Abwärtsbewegungen mehr verlieren, als sie bei steigenden Kursen verdienen. Ein klarer Fall von Psychologie, meinen Experten. Solche Phänomene erklären sich daraus, dass außer objektiven Tatsachen – den Fundamentaldaten wie der Geschäftsentwicklung – externe menschliche Faktoren ins Spiel kommen.
Fallen Verluste größer aus als Gewinne, ist das ein Hinweis, dass das Prinzip Hoffnung überwiegt. Auch wenn das eine sehr menschliche und in der Regel positiv besetzte Eigenschaft ist, kann sie im Börsenhandel fehl am Platz sein, wie Christian Henke vom britischen OnlineBroker IG sagt. „Hier geht es um die Hoffnung, dass eine Position, die sich im Verlust befindet, doch noch in die Gewinnzone dreht. Das ist allerdings oft nicht der Fall. Der Verlust wird immer größer.“
Ähnliche Effekte können auch andere Emotionen auslösen. Oftmals sind es dieselben, wie sie auch beim Spielen zum Tragen kommen. So etwa treibt Gier den starken Wunsch nach immer höherem Gewinn. In der Folge droht das zu lange Halten einer Position, bis diese wieder ins Minus dreht. Zugleich kann auf der anderen Seite Angst – also eine negative Erwartung – einen Trader daran hindern, überhaupt irgendein Risiko einzugehen. Er investiert somit gar nicht. Weitere Emotionen, die börsetechnisch rationales Verhalten verhindern können, sind Frustration oder Ungeduld beziehungsweise Langeweile. Dauert es zu lange, bis ein Markt eine erwartete Richtung einschlägt, läuft der ungeduldige Händler Gefahr, das Risiko unverhältnismäßig stark zu erhöhen. Umgekehrt kann Frustration dazu führen, alles hinzuwerfen und auszusteigen. Letztlich sind es genau diese Faktoren, die Anleger dazu bringen, auf Höchstständen zu kaufen und zum tiefsten Preis zu verkaufen – also rational gesehen genau das Falsche zu tun.
Wirtschaftspsychologe Erich Kirchler weist darauf hin, dass „die aktuelle Stimmung der handelnden Akteure relevant dafür ist, welche Erwartung sie in Bezug auf die Kursentwicklung haben“, umgekehrt spiegeln Aktienkurse auch diese Stimmung wider. Auch „die Überzeugung der Akteure, das Geschehen kontrollieren zu können, ist häufig weit überzogen“, stellt Kirchler fest – und verweist auf den sogenannten Lemming-Effekt.
Dieser beruht auf dem durch andere Händler erzeugten sozialen Druck. Gibt es eine auffällige Bewegung am Markt, etwa wenn viele Anleger eine Nachricht wie die jüngsten Geschäftszahlen positiv bewerten und Aktien kaufen, steigt der Druck auf den einzelnen Händler, diesem Herdentrieb zu folgen.
Oftmals zeichneten sich die erfolgreichsten Investoren durch ihr konträres Denken aus, sagt Aktienmarktexpertin Sandra Navidi, Gründerin des Beratungsunternehmens BeyondGlobal. „Die folgen gerade nicht der Herde, sondern schwimmen gegen den Strom und machen sich das Verständnis psychologischer Faktoren zunutze.“Zudem verfügten sie über eine ausgeprägte Intuition auf Basis früherer Erfahrungen und daraus entstandener neuronaler Muster.
Was tun, um solche – aus Ertragssicht gesehen – menschlichen Fehlentscheidungen zu verhindern? Ein Trader müsse seine Entscheidungen stets hinterfragen und jede Art „gedanklicher Shortcuts“vermeiden, meint Pinner. Dabei kann eine vorher festgelegte Vorgangsweise helfen – etwa wenn vorab fixiert wurde, wann der Einstieg und wann der Ausstieg erfolgen soll.
Manche verlassen sich auf die Unbestechlichkeit von Computersystemen, denen Psychologie fremd ist. Ein Königsweg ist auch hier die Selbsterkenntnis. Kann der Händler die ihn leitenden psychologischen Handlungsmotive erkennen, hat er die Chance, ein emotional getriebenes Geschäft zu unterlassen.
„Kurs-Charts sind ein schönes Abbild der Börsenpsychologie.“