Nicht alle waren alarmiert
Hätten die Betroffenen besser vor den Überschwemmungen gewarnt werden müssen? Darüber diskutiert Deutschland wenige Tage nach der Flutkatastrophe. Anders als in Österreich haben nicht überall die Sirenen geheult.
WIEN. Von einem „monumentalen Systemversagen“spricht eine britische Wissenschafterin und heizt damit die Debatte über Mängel in der Informationskette bei der Unwetterkatastrophe in Deutschland an. „Die Menschen hätten Warnungen erhalten sollen“, sagte Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der Universität Reading, gegenüber der „Sunday Times“.
Cloke baute nach den schweren Hochwassern in Europa 2002 mit Kollegen die Plattform EFAS (European Flood Awareness System) auf. Dort werden Beobachtungen des EU-Satelliten Copernikus mit hydrografischen Daten und Pegelständen kombiniert, um möglichst genaue Prognosen für Hochwasser zu erstellen. Für Deutschland und Belgien seien diese seit Tagen vorgelegen, sagte Cloke. Die Warnung vor „extremen Überschwemmungen“, unter anderem entlang von Erft und Ahr, seien an die Behörden geschickt worden.
Auch der Deutsche Wetterdienst hatte schon am Montag eine Warnung vor Stark- und Dauerregen herausgegeben. Warum also wurden die Menschen in manchen Orten so von den Fluten überrascht?
Armin Schuster, Präsident des deutschen Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), sagt dazu, welcher Ort von welcher Regenmenge getroffen werde, könne man trotz der genauen Prognosen oft noch eine Stunde vorher nicht sagen. Auch Cloke sagte in der „Sunday Times“, eine Vorhersage für einzelne, kleinere Orte sei schwierig.
Dazu kommt aber, dass offenbar nicht alle Betroffenen eine Warnung erhalten haben. Das liegt auch daran, dass in Deutschland, anders als in Österreich, im Notfall nicht mehr überall die Sirenen heulen.
Anfang der 1990er-Jahre wurde in Deutschland umgestellt. Statt über Sirenen wird die Bevölkerung via Rundfunk im Katastrophenfall gewarnt. Dahinter steht ein „modulares Warnsystem“, das automatisch alle behördlichen Lagezentren in den Ländern und Gemeinden sowie Medien verständigt. Die restlichen noch einsatzbereiten Sirenen im Land, die heute in kommunaler
Hand sind, werden über dieses System nicht automatisch aktiviert, wie aus einem Bericht des Amts für Katastrophenhilfe hervorgeht.
Die Bevölkerung wird im Fall der Fälle in Deutschland also vor allem über die Medien informiert – und seit einigen Jahren über eine WarnApp, die auch an das offizielle Warnsystem angebunden ist. Allerdings: Anders als Sirenen haben Rundfunk und App keinen automatischen Weckeffekt, wie es im Fachjargon selbsterklärend heißt. Wer das Gerät nicht an- oder es lautlos gestellt hat, verpasst den Alarm.
Hier gibt es erste Konsequenzen. Man brauche „einen WarnmittelMix“, sagte Schuster vom Amt für Katastrophenhilfe am Montag und ergänzte: „Deshalb wollen wir auch die gute alte Sirene zurück.“90 Millionen Euro sollen vorerst in die Hand genommen werden, um sie an „den richtigen Stellen“wieder in Betrieb zu nehmen. Reichen wird diese Summe laut Schuster nicht.
Eine andere Forderung, die eine bessere Warnkette in Deutschland bringen soll, wird so schnell nicht erfüllt werden. Unter anderen Annalena Baerbock (Grüne) forderte am Montag, der Bund brauche im Katastrophenschutz mehr Befugnisse. Derzeit ist dieser Sache der Länder und Gemeinden. Und so soll es bleiben, wenn es nach dem deutschen Innenminister Horst Seehofer (CSU) geht. Der Katastrophenfall werde nicht in Berlin, sondern vor Ort ausgelöst, sagte er. „Zentralismus verbessert hier gar nichts.“
Auch in Österreich sind Katastrophenschutz, Rettungs- und Feuerwehrwesen Sache der Bundesländer. Wird Zivilschutzalarm ausgelöst, wie am Sonntag in drei Gemeinden im niederösterreichischen Mostviertel, heulen zunächst in den betroffenen Regionen die Sirenen. Die Bürgermeister oder Feuerwehrkommandanten der Gemeinden melden Bedarf an die Bezirksleitstelle, die wiederum die Landeswarnzentrale informiert.
Diese stimmt sich wöchentlich über Alarmpläne mit den ORF-Landesstudios ab, wo über Radio die Maßnahmen an eine breite Öffentlichkeit herangetragen werden. „Wir sind binnen zwei Minuten auf Sendung gegangen und haben die Bevölkerung gewarnt, Keller zu meiden, und aufgetragen, in höhere Stockwerke auszuweichen“, erzählt Stefan Kreuzer, stellvertretender Leiter der Katastrophenschutzabteilung in Niederösterreich.
Je nach Größe des Ereignisses wird über unterschiedlich viele Sirenen Alarm ausgelöst. Österreichweit sind mehr als 8200 Feuerwehrsirenen zumeist an öffentlichen Gebäuden angebracht, die analog funktionieren und vernetzt sind. Sollen alle Österreicher alarmiert werden, wie bei einer Atomkatastrophe, wird vom Einsatz- und
Koordinationscenter im Innenministerium die Bundeswarnzentrale aktiviert, es genügt ein Knopfdruck und es heulen alle Sirenen.
Wurden früher Kirchenglocken geläutet, um rasch viele Leute vor Ort zu erreichen, so fahren heute auch noch Lautsprecherwagen der Ortsfeuerwehr oder Polizei durch den Ort und informieren die Bevölkerung in dringenden Fällen.
Natürlich gibt es seit einigen Jahren auch digitalen Sirenenalarm. In Form der KATWarn-App, die vom Innenministerium betrieben wird. Das Problem ist die noch sehr geringe Ausbreitung – derzeit werden 104.004 Nutzer verzeichnet. Laut einer EU-Verordnung ist künftig in Europa zusätzlich der „Cell Broadcast“umzusetzen: Jeder Bürger mit Mobiltelefon, der sich in einem Katastrophengebiet aufhält, wird über die Landeswarnzentralen per SMS kontaktiert und informiert.
Kreuzer zufolge steht die Landeswarnzentrale in ständigem Kontakt mit der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Besteht Gefahr für ein Naturereignis – Sturm, extremer Niederschlag, Straßenglätte oder Waldbrand wegen Trockenheit – gehen E-Mails und SMS an die Leitstellen und die Bezirksverwaltungsbehörden, die wiederum die Warnungen an Gemeinden und Blaulichtorganisationen weitergeben. Während in Tirol die Bürgermeister oberste Katastrophenmanager sind, sind es in Niederösterreich die Bezirkshauptleute. „Sie könnten jeden Bürger verpflichten, an Hilfsmaßnahmen mitzuwirken“, erzählt Kreuzer.
Das Prinzip, sagt Walter Hajek, der beim Österreichischen Roten Kreuz für internationale Zusammenarbeit zuständig ist, sei überall auf der Welt gleich: Die Behörden würden nach Informationen der nationalen Wetterdienste im Katastrophenfall entscheiden und gegebenenfalls Einsatzkräfte anfordern. In unseren Breiten funktionierten diese Strukturen besonders gut, genau wie die Vorhersagen. „Da ist die Qualität sehr unterschiedlich, je nachdem, wo man sich befindet.“Zudem seien bei manchen Naturereignissen früher Prognosen möglich als bei anderen – und damit auch Vorkehrungen. „Auf eine saisonale Dürre können wir uns schon Monate vorher vorbereiten, hingegen sprechen wir von Tagen, wenn es um einen Taifun geht.“Ähnlich sei es bei Fluten, wo die Zeit oft nur zur Evakuierung reiche.
„Deshalb wollen wir die gute alte Sirene zurück.“