England feiert seine Freiheit
In den Clubs wird wieder getanzt, vielerorts fallen die Masken: Seit Montag gibt es in England kaum Coronaregeln mehr. Dass die Infektionszahlen drastisch steigen, ignoriert Premier Johnson.
Trotz drastisch steigender Coronafallzahlen haben die Menschen in England seit Montag wieder deutlich mehr Freiheiten. Tausende Feierwütige begrüßten den sogenannten Freedom Day bereits in der Nacht in den Clubs des Landes, die seit März 2020 geschlossen hatten. Die Regierung hat fast alle verpflichtenden Coronamaßnahmen aufgehoben und appelliert an die Eigenverantwortung der Menschen. Abstandhalten und Masketragen sind in vielen Bereichen fortan Privatsache. Massenveranstaltungen sind genauso erlaubt wie volle Pubs, Theater und Nachtclubs und auch die staatliche Aufforderung, von zu Hause aus zu arbeiten, gilt nicht mehr.
An den Bahnhöfen des Landes zeigte sich am Montagmorgen ein gemischtes Bild: Während viele von ihrer neuen Freiheit Gebrauch machten und ohne Maske unterwegs waren, entschieden sich auch weiter etliche Reisende freiwillig für die Schutzmaßnahme. Wer in London unterwegs ist, muss dies ohnehin weiterhin tun: Bürgermeister Sadiq Khan verkündete für die Bahnen und Busse des Netzwerks Transport for London eine Verlängerung der Maskenpflicht.
Premierminister Boris Johnson setzt hingegen voll auf die Erfolge der fortgeschrittenen Impfkampagne und die Eigenverantwortung der Menschen. Inzwischen haben 88 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich eine erste Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zwei Mal geimpft. Doch Experten warnen, dass die Situation trotz der hohen Impfquote außer Kontrolle geraten könnte. Bereits jetzt werden täglich zum Teil mehr als 50.000 Fälle registriert – beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel.
Experten zweifeln daran, ob der Schutz durch die Impfungen ausreichen wird, um einer großen Infektionswelle standzuhalten. Dem Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London zufolge ist es „beinahe unausweichlich“, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 100.000 bald überschreitet. „Die Frage ist, ob es sogar doppelt so viele werden oder sogar noch mehr“, sagte Ferguson der BBC Sonntag. Im schlimmsten Fall, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen 2000 oder 3000 täglich erreiche, müssten Maßnahmen ergriffen werden, warnte er.
Das will Johnson unbedingt verhindern. Er hatte den Weg seines Landes aus dem Lockdown stets als „vorsichtig, aber unumkehrbar“beschrieben. „Bitte, bitte, seien Sie vorsichtig“, flehte er die Briten an. Ob er damit überzeugen kann, scheint fraglich. Er selbst verbringt den „Freedom Day“– wie auch Finanzminister Rishi Sunak – in Quarantäne. Beide hatten Kontakt zu dem Gesundheitsminister Sajid Javid, der an Covid-19 erkrankte. Die Politiker sorgten für Empörung, als sie kurzzeitig erwogen, sich um die Selbstisolation zu drücken und stattdessen an einem Pilotprojekt teilzunehmen, das vollständig Geimpften tägliche Tests statt Quarantäne ermöglichen soll.
Die Lockerungen gelten nur für England, das keine eigene Regierung hat. Die Regionalregierungen von Wales, Schottland und Nordirland sind für ihre Gesundheitspolitik selbst verantwortlich.