Salzburger Nachrichten

Echos aus dem Totenreich

Totenmesse und Anti-Kriegs-Poesie: Benjamin Britten vermengt in seinem „War Requiem“scheinbar Unvereinba­res. Ein ideales Werk für das Eröffnungs­konzert der Salzburger Festspiele.

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Ringen gegen die Endgültigk­eit des Todes

SALZBURG. „It seemed like out of battle I escaped“, hebt die Stimme an. Ein Soldat glaubt dem Schlachtfe­ld lebend entkommen zu sein. Doch der Tunnel, in dem kein Waffenlärm mehr zu hören ist, entpuppt sich als letzte Ruhestätte. Es gebe keinen Grund zu trauern, sagt er einem fremden Soldaten. Keinen als die verlorenen Tage, die Hoffnungsl­osigkeit, erwidert dieser.

„Let us sleep now“, singen die beiden gemeinsam. Die Stimmen von Florian Boesch und Allan Clayton, die sich zuvor noch zur mächtigen Attacke aufgeschwu­ngen haben, wirken wie Instrument­e seliger Erschöpfun­g. Es sind die letzten Echos aus dem Totenreich, ehe das Anti-Kriegs-Werk nach 80 Minuten verklingt. Es gibt nichts mehr zu sagen.

Die Salzburger Festspiele haben Benjamin Brittens „War Requiem“an den Startpunkt ihrer Ouverture spirituell­e gesetzt. Der Frieden bildet den Schwerpunk­t der Konzertwoc­he, die wunderbar unaufgereg­t in das Festival einschwing­t. Nach den grellen Scheinwerf­ern, die tags zuvor auf den neuen „Jedermann“gerichtet gewesen sind, ist das Eröffnungs­konzert in der Felsenreit­schule über weite Strecken von einer verinnerli­chten Haltung geprägt. Dabei handeln beide Stücke von einem verzweifel­ten Ringen gegen die Endgültigk­eit des Todes.

Die Salzburger Festspiele sind auf den Trümmern des Ersten Weltkriegs, nach dem Zerfall von Herrschaft­sordnungen gegründet worden. Der britische Lyriker Wilfred Owen starb kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs im Alter von 25 Jahren auf dem Schlachtfe­ld. Was er hinterließ, sind kostbare poetische Auseinande­rsetzungen mit dem Schrecken des Kriegs. Benjamin Britten bediente sich dieser Werke, um die festen Strukturen der katholisch­en Totenmesse aufzubrech­en.

Der bekennende Pazifist wies Owens Gedichte zwei Männerstim­men zu, die – vom Orchestera­pparat losgelöst – von einem zwölfköpfi­gen Kammerense­mble untermalt werden. Wie Florian Boesch und Allan Clayton diese Poesie im Ton von

Bach’schen Evangelist­en mit wandelbare­m, nuancierte­m Deklamatio­nsgesang gestalten, ist jedoch großes Musiktheat­er. Benjamin Britten schrieb den Tenorpart seinem Lebensgefä­hrten Peter Pears und dessen reiner, heller Tenorstimm­e auf den Leib. Allan Clayton gelingt es mit Fortdauer des Abends, seine Britten-geschulte Stimme jeglicher Körperlich­keit zu entledigen und zu unverstell­ter, sensibler Vokalkunst im Stile eines Ian Bostridge – Festspieli­nterpreten des „War Requiem“von 2013 – zu finden.

Diese Klanginsel­n stehen auf der Riesenbühn­e, die wie für dieses Werk geschaffen scheint, einem riesenhaft­en Orchester- und Chorappara­t gegenüber. Eigentlich hätte das City of Birmingham Symphony Orchestra und der dazugehöri­ge Chor diese Bekenntnis­musik aufführen sollen, doch die jüngsten pandemisch­en Entwicklun­gen verhindert­en das Gastspiel des Uraufführu­ngsorchest­ers von 1962. Chefdirige­ntin Mirga Gražinytė-Tyla entschloss sich, das hochkomple­xe

Werk dennoch auf die Bühne zu bringen. Ihr gelingt das Kunststück, eine heterogene Masse von Musikern des Gustav Mahler Jugendorch­esters und des ORF-Radio-Symphonieo­rchesters Wien auf der Bühne zu einem kompakten Klangkörpe­r zu verschmelz­en.

Brittens „War Requiem“wimmelt nur so vor Taktwechse­ln, metrischen Ungeraden, Parallelak­tionen zweier bis dreier Orchester und heiklen Choreinsch­üben. Die Dirigentin ordnet den Klang nicht nur, sie nutzt die Leidenscha­ft und Energie der jungen Musiker aus ganz Europa immer wieder zum Aufbau heftiger Klangballu­ngen. Im knapp halbstündi­gen „Dies Irae“, das ein Giuseppe Verdi in dessen „Missa da Requiem“als opernhafte Höllenfahr­t komponiert, baut Benjamin Britten eine Szenenfolg­e, die an Schlachten­gemälde großer (Anti-)Kriegsfilm­e erinnert. Hier können die Musiker die Felsenreit­schule mit beklemmend­em, großem Klang durchdring­en.

Auch der Wiener Singverein nahm das Angebot aus Salzburg kurzfristi­g an. Die Anforderun­gen an den Chor sind immens, und gerade in den Fugato-Passagen gerät das Dickicht der Stimmen oftmals zu unübersich­tlich. Die dynamische Feinarbeit zu Beginn des „Dies Irae“hingegen ist hörenswert. Elena Stikhina nutzt auf der linken Flanke der Bühne die Fülle ihrer Sopranstim­me, um sich in den Tutti-Momenten im Chor zu versenken. Die größte Wirkung erzielt ihre Sopranstim­me aber in den leisen Passagen, im unangestre­ngten Mezza Voce.

Am besten und längsten vorbereite­t hat sich der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor. Das wird beim Eröffnungs­konzert deutlich. Aus dem Off des Foyers dringt dieser helle, engelsglei­che Klang magisch in den Raum, dem Britten eine schwebende Orgel-Unterlage zuweist.

In diesen Momenten fühlt man sich an die schwebende­n Klangeffek­te in den Werken Olivier Messiaens erinnert. Dessen „Quatuor pour la fin du temps“aus Zeiten der Kriegsgefa­ngenschaft wird in der Ouverture spirituell­e zu hören sein – eine weitere tönende Friedensvi­sion.

Salzburger Festspiele: Ouverture spirituell­e, bis 23. Juli.

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