Die ÖVP muss sich wieder einmal neu erfinden
Die Fokussierung auf einen einzigen türkisen Stern am Himmel hat sich nicht bewährt. Die Partei muss sich breiter aufstellen.
Über den Rücktritt des früheren Kanzlers gibt es zwei Erzählungen. Die eine geht so: In der Nacht zum vorvergangenen Samstag schmiedet Sebastian Kurz im Kreise seiner engsten Vertrauten den Plan, im Sinne des Staatsganzen, aber vor allem der ÖVP, zur Seite zu treten und die Bahn frei zu machen für seinen Außenminister als neuen Regierungschef: „Schalli, du musst übernehmen.“
Die andere Version geht so: Als sich abzeichnet, dass die Opposition und auch der Regierungspartner Sebastian Kurz tatsächlich im Parlament abwählen würden, ziehen die Landeshauptleute die Reißleine und zwingen ihn zumindest zur Teilaufgabe. Der Kanzler hätte ansonsten das gesamte Regierungsteam in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit mitgerissen. Es geht um Macht und Milliarden Euro an Projektförderungen für die Länder. Ohne türkise Minister in
Wien wäre das Geld futsch.
Die Wahrheit wird wohl wie so oft irgendwo in der Mitte liegen. Die Geschichte zeigt uns aber, warum heute so sehr um die Hoheit über Erzählungen gerungen wird. Es entscheidet nicht mehr so sehr, was ist, sondern was geglaubt wird.
Variante eins präsentiert uns den Altkanzler als verantwortungsvollen und einsichtigen Politiker, der sich denkt, „mein Land ist mir wichtiger als meine
Person“, und entsprechend handelt. Der Rücktritt zur Seite ist nach dieser Lesart kein Zeichen der Schwäche, sondern eines der Stärke.
In Variante zwei wird Sebastian Kurz das Heft von den Landeshauptleuten aus der Hand genommen.
Ein Vorgang, der früher zum Tagesgeschäft in der ÖVP gehört hat. Bei praktisch jedem zweiten Dreikönigstreffen der Partei in Maria Plain und jedem dritten Forum in Alpbach stand der Parteichef zur Disposition der Mächtigen in den Ländern und Bünden. Ein neues Parteistatut sollte damit ein für alle Mal aufräumen. Zumindest hat Sebastian Kurz das bis vor Kurzem geglaubt. Jetzt ist alles anders.
Egal wie das Match um Sebastian Kurz ausgeht, die ÖVP muss sich wieder einmal neu erfinden. Zurück zur starren, unbeweglichen, altvaterischen Partei will und kann niemand mehr. Umgekehrt hat sich die Fokussierung auf einen einzigen türkisen Stern am Himmel aber auch nicht bewährt.
Wer eine Volkspartei sein will, muss diese auch an der Spitze widerspiegeln und ihre Werte hochhalten. Ansonsten bleibt es beim vielleicht kurzfristig erfolgreichen, aber auf Dauer inhaltsleeren Wahlverein.
Die ÖVP muss sich entscheiden, wohin sie will.