Wohin geht die ÖVP?
Was wird Karl Nehammer am Parteitag sagen? Wie lange regiert er noch? Was ist sein Wahlziel? Ein langjähriger ÖVP-Kenner antwortet.
SN: Was erwarten Sie sich als langjähriger Beobachter von diesem Parteitag?
Fritz Plasser: Erstens ein sehr deutliches Wahlergebnis für Karl Nehammer – 95 Prozent plus. Und zweitens eine spannende Rede mit Markierungen und Wegmarken.
SN: Und zwar welchen?
Nehammer wird wohl versuchen, eine wirtschaftspolitische Kompetenz-Offensive zu starten. Nach der jüngsten Regierungsumbildung kann er das auch. Die ÖVP hat jetzt personell-ministeriell eine Wirtschaftskompetenz, über die sie in dieser Form noch nie verfügt hat. Minister Martin Kocher ist ein echtes Asset für die ÖVP.
SN: Wahlen werden aber eher mit Sozialthemen gewonnen.
Daher wird Nehammer wohl die Teuerung ansprechen und zu zeigen versuchen, wie die Regierung da wirtschaftspolitisch gegensteuern kann. Stichwort etwa: Beseitigung der kalten Progression.
SN: Was muss Nehammer in der Rede noch ansprechen?
Die Energieversorgung. Da muss er klarzumachen versuchen, wie sehr die Regierung auf Lieferengpässe vorbereitet ist. Damit in Zusammenhang steht das Thema UkraineKrieg: Wo steht da Österreich? Wird es sich stärker in eine neue europäische Sicherheitsarchitektur einbringen? – Und schließlich wird Nehammer es sich nicht ersparen können, auf das Thema Korruptionsvorwürfe einzugehen.
SN: Kein angenehmes Thema.
Die ÖVP laboriert an einem generalisierten, pauschalen Korruptionsverdacht, zuletzt noch verstärkt durch die Vorgänge in Vorarlberg. Das tut einer Partei sehr, sehr weh. Da muss Nehammer konkret gegensteuern: keine Papiere, sondern handfeste Aktionen. Es braucht strikte Regeln, die auch für Bünde und Länder gelten. Das wird in der ÖVP nicht populär sein, aber es ist notwendig. Nehammer muss signalisieren: Ich tue etwas dagegen!
SN: Sebastian Kurz wird zum Parteitag kommen. Welche Rolle spielt er noch in der ÖVP?
In der Parteielite gar keine mehr. In der Wählerschaft gibt es schon noch einen Prozentsatz, der ein wenig traurig ist über seinen Abgang. Denen fehlt was. Aber das ist es. Die Kurz-Jahre sind eine Episode der Parteigeschichte. Sie ist abgeschlossen – mit den Rücktritten der vergangenen Tage endgültig.
SN: Nehammer muss also nicht mehr aus dem Schatten von Kurz treten?
Nein. Als Nehammer-Stratege würde ich mich damit nicht mehr befassen, sondern eher mit der Frage: „Was machen wir jetzt? Wir stehen nicht mehr im Schatten, aber in der Sonne sind wir auch nicht …“
SN: Ist die ÖVP wieder schwarz? Oder: Wie türkis ist sie noch?
Man könnte sich auch die Frage stellen: Wie türkis war sie in den letzten fünf Jahren? Wie tief ist diese Farbe überhaupt eingedrungen in die Partei? Türkis, Kurz – das war etwas für die Öffentlichkeit. Aber vieles war nur oberflächlich und hat zu keinen Veränderungen im institutionalisierten Kern der ÖVP geführt. Dass es da Veränderungen gab, die jetzt wieder verändert werden müssten – das sehe ich nicht.
SN: Die Umfragewerte der
ÖVP sind schlecht. Hat sie die nächste Wahl schon verloren?
Umfragen im Mai 2022, wenn die Wahl erst im Herbst 2024 stattfindet, haben keine prognostische Basis. Es gibt durchaus die Möglichkeit, dass die ÖVP wieder näher an die SPÖ heranrückt. Das Ziel, wieder Nummer eins zu werden, halte ich für sehr ambitioniert. In Wahrheit geht es der ÖVP um ein Wahlergebnis, das sicherstellt, dass sie auch der nächsten Bundesregierung angehört. Das ist ihr strategisches Wahlziel.
SN: Glauben Sie, dass die Koalition bis Herbst 2024 hält?
Wenn es nach der Volkspartei und den Grünen geht: Ja. Denn viel schlechter als jetzt mit der Verdichtung an Krisen kann es nicht mehr werden. Es überwiegt die Hoffnung, dass es besser wird. Aber es gibt natürlich Faktoren, die zu einem früheren Ende führen könnten – etwa wenn die kommenden Landtagswahlen für die ÖVP ganz schlecht ausgehen. Dann gibt es ja bekanntlich den archaischen Reflex: Es ist immer der Bund schuld.