Karl Nehammers Kür und was für die ÖVP wirklich wichtig ist
Keine Frage: Die Volkspartei ist in der Krise. Aber für ihr strategisches Ziel, auch in der nächsten Regierung zu sitzen, schaut es gar nicht so schlecht aus.
„Wir sind die Volkspartei. Wir sind 600.000!“Das (mit 600.000 ist die Mitgliederzahl der ÖVP gemeint) war eine der am häufigsten gebrauchten Floskeln beim ÖVP-Parteitag am Samstag in Graz. Die seit Monaten arg gebeutelte Partei versuchte sichtlich, sich selbst Mut zuzusprechen, die Reihen zu schließen und wieder Tritt zu fassen.
Das scheint auch notwendig zu sein, denn zuletzt hatte die Kanzlerpartei den Eindruck vermittelt, als lasse sie alle Angriffe und Vorwürfe widerstandslos über sich ergehen. „Liebe Freunde, wir müssen wieder lernen zu kämpfen“, lautete denn auch der Ratschlag von Altkanzler Wolfgang Schüssel, dessen kämpferische Rede viel beklatscht wurde.
Der neue Parteiobmann Karl Nehammer hielt indes keine kämpferische, sondern eine überraschend leise, nachdenkliche und sachliche Rede. Sie widmete sich über weite Strecken den aktuellen Herausforderungen der Regierungsarbeit und glich somit mehr einer breit angelegten Regierungserklärung (bei der Nehammer sogar zwei Mal den grünen Koalitionspartner lobend erwähnte) als einer aufpeitschenden Parteitagsrede.
Nur ganz am Rande kam Nehammer auf die massiven Korruptionsvorwürfe gegen die ÖVP zu sprechen, indem er in Richtung Opposition meinte: „Es gibt ganz viele Angriffe unter der Gürtellinie – weil sie es auf Augenhöhe nicht schaffen.“Dann aber sprach der Kanzler gleich wieder über die aktuelle Agenda – von der Teuerung bis zur Gasbevorratung.
Offenbar wollte Nehammer damit zeigen, dass sich die ÖVP trotz aller Korruptionsvorwürfe nicht von der Arbeit abhalten lasse. Und dass sie keineswegs daran denke, die Regierungsverantwortung abzugeben. Frei nach dem Motto: Wir haben keine Zeit für Korruptionsdebatten, wir müssen das Land regieren!
Die Parteitagsdelegierten dankten Nehammer diese Mutinjektion mit einem nicht mehr zu übertreffenden Wahlergebnis. So unklug (oder ehrlich) wie die SPÖ, die ihre Chefin Pamela Rendi-Wagner beim letzten Parteitag nur zu 75 Prozent für die Richtige hielt, war die ÖVP am Samstag in Graz also nicht.
Echte Bedeutung haben die 100 Prozent für Nehammer keine. Man denke zurück: Beim letzten ÖVP-Parteitag im August des Vorjahres hatte Sebastian Kurz fast 100 Prozent bekommen. Keine zwei Monate später ließ die Partei ihn eiskalt fallen, als die Vorwürfe gegen ihn massiver wurden und die ÖVP seinetwegen aus der Regierung zu fliegen drohte. Man erinnert sich: Damals bahnte sich eine Vier-ParteienKoalition aus SPÖ, FPÖ, Grünen und Neos an, um Kurz zu stürzen. Da zog die ÖVP die Notbremse.
Eine Partei, die sich seit 35 Jahren ununterbrochen in der Regierung hält, denkt nicht in Personen, sondern in Machtpositionen. Die ÖVP hat am Samstag ihren Willen bekundet, diese Machtpositionen noch auf Jahre hinaus zu behalten – derzeit halt unter der Führung von Karl Nehammer.
Was für die ÖVP in der Vorwoche wichtiger war als die Wahl eines neuen Parteichefs, war ein Interview, das die bereits erwähnte Pamela Rendi-Wagner den „Salzburger Nachrichten“und den anderen Bundesländerzeitungen gegeben hat. Darin schloss die SPÖ-Vorsitzende eine Koalition mit der FPÖ dezidiert aus. Das war die beste Nachricht, die es für die ÖVP seit Monaten gegeben hat.
Denn eine Regierungsmehrheit ohne die Beteiligung einer der beiden Parteien ÖVP oder FPÖ hat es in diesem Lande seit fast 40 Jahren nicht mehr gegeben. Das heißt, wenn die SPÖ als (laut derzeitigen Umfragen) nächste Kanzlerpartei nicht mit der FPÖ koalieren will, wird sie es vermutlich mit der ÖVP tun müssen. Denn eine Regierungsmehrheit für SPÖ, Grüne und Neos ist (wiederum: nach derzeitigen Umfragen) nicht sicher.
Die Koalitionsabsage Rendi-Wagners an die FPÖ dient also dem strategischen Ziel der ÖVP, das schlicht lautet, auch nach der nächsten Wahl in der Regierung zu sitzen. Bis zu dieser nächsten Wahl wird die ÖVP alles tun, um in der Wählergunst nicht noch weiter abzustürzen. Wie sie das machen will, das deutete Kanzler Nehammer in seiner Parteitagsrede bereits an – mit einer pragmatischen und jedenfalls nicht allzu sparsamen Politik.
Ob das reicht? Man wird sehen. Früher, da bekam die ÖVP schon existenzielle Krisen, wenn sie bei Wahlen nur 45 oder 40 Prozent erreichte. Jetzt, in Zeiten einer zunehmenden Fragmentierung des politischen Spektrums, kann man aber – das zeigen internationale Beispiele – selbst mit 20 Prozent noch ein bedeutsamer politischer Faktor sein.
Eine pragmatische und jedenfalls nicht allzu sparsame Politik