Song Contest: Im Krieg endet die Idee der Party und des bloßen Wettsingens
Der Sieg für die Ukraine beim ESC ist Zeichen europäischer Solidarität. Gleichzeitig entlarvt der Sieg die ständige Betonung, das Wettsingen sei „unpolitisch“und es gehe nur um Musik, endgültig als stumpfsinnige Ausrede.
„Stefania“heißt das Lied. Kalush Orchestra heißen die Interpreten. Sie haben gewonnen. Ein Sieg mit Ansage. Ein Sieg also für einen Song aus der Ukraine (übrigens der dritte Sieg für dieses Land). Oder war es kein Voting für Musik, sondern gegen den Krieg? Sicher ist: Der Krieg in der Ukraine wird eher nicht durch die Melodie eines Liedes entschieden, auch nicht wenn der Eurovision Song Contest mit dem Alltime-Hit „Give Peace A Chance“eröffnet wird. Und gewiss ist es auch keine neue Weisheit, dass der Song Contest als Plattform taugt für politische Äußerungen – jedenfalls beim Publikum. Es waren die 439 Punkte beim Publikumsvoting, die den Ausschlag für Kalush Orchestra gaben. Bei der Jurywertung waren Großbritannien, Spanien und Schweden vorn.
„Oh no, no, no“, schreit aber der Vielfaltschor der Song-Contest-Macher und Song-Contest-Liebhaber immer, wenn man den Contest „politisch“nennt. Die mögen es lieber ganz naiv und wollen, dass ihr Megaereignis als Friede-Freude-Tralala wahrgenommen wird. Auch wenn Krieg ist, soll das so sein.
Seit die Welt erfreulich massiv divers wurde, ist der Song Contest quasi so etwas wie der Musikantenstadl einer politisch brav korrektelnden Community, in der sich keiner für irgendetwas schämen muss – außer für die Musik, aber die ist ja Geschmacks- und nicht Ideologiefrage. An die Musik werden ohnehin keine Ansprüche gestellt. Dass an die Musik keine Ansprüche gestellt werden, ist sogar dort formuliert, wo die „ESC-Werte“von der veranstaltenden European Broadcasting Union in den Regeln genannt werden: „Universalität, Diversität,
Gleichberechtigung und Inklusion sowie die stolze Tradition, die Vielfalt durch die Musik zu feiern.“Und: Protestsongs sind nicht erlaubt. Aber unpolitisch?
Nichts ist unpolitisch – schon gar nicht jede Art internationaler Großveranstaltungen. Erst recht nicht, wenn das alles ein gesungenes Länderspiel ist. Beim Fußball oder bei Olympia fällt der Irrsinn halt stärker auf, wenn in Diktaturen angestoßen wird.
Das jährliche Wettsingen jedenfalls wollte auch bei der heurigen Ausgabe im Schatten des Kriegs einer ewigen Tradition folgend bunt und knallig irrlichternd von echten Problemen ablenken. Das Ereignis spielt aus sogenannten musikalischen oder gar künstlerischen Aspekten ohnehin keine Rolle. Denn, und das ist Prinzip und das ist auch das Dilemma der Show, es singen ja keine Künstlerinnen und Künstler für etwas, sondern es treten die Teilnehmenden
ihrer „Länder“gegeneinander an. „Für“oder „gegen“– das mag bloß als kleiner verbaler Unterschied wahrgenommen werden, wenn man in einer grundsätzlich als friedlich empfundenen Welt – jedenfalls auf europäischer Ebene – lossingt. Der Song Contest lebt aber ganz ungeniert mit ewigen Grauslichkeiten, mit den langen Schatten des Nationalismus. Und man lebt gut damit, weil man ja die herrliche Ausrede hat, dass alle Probleme weggesungen werden könnten.
Viel wird jedes Mal davon erzählt, dass an diesem einen Abend ja ganz Europa zuschaue. Zumindest schauen sehr, sehr viele zu auf diesem Kontinent, der nie nach dem Zweiten Weltkrieg in einen so nahen Abgrund schauen musste. Dieses Massenpublikum ist – jenseits aller politischen oder sozialen Dimension – zunächst ein ökonomischer Startvorteil für den Sieger. Die kuriose Idee eines Wettsingens funktioniert als größter denkbarer Marktplatz der Hoffnungen. Nun aber, da offenbar alle auf diesem Kontinent gleichermaßen eine Bedrängnis durch einen Krieg fühlen, kann man sich wenigstens an diesem einen Abend solidarisch einigen. Es geht beim ESC in erster Linie darum, in einem Meer wogender Belanglosigkeit
nicht als die oder der Belangloseste unter den Mitbewerbern aufzufallen. Das mag zynisch klingen: Wenn man aus einem Land im Krieg kommt, ist das ein Startvorteil, der jede musikalische Frage in Luft und Zustimmung beim Voting auflöst. Es geht bei diesem Ereignis einzig darum, noch im Gedächtnis zu sein, wenn nach dem letzten Ton das europaweite Voting beginnt. Oder, und das mag noch einmal zynisch klingen, man kommt aus einem Land, das angegriffen und zerstört wird, das leidet. Dann verdient man zweifelsohne Solidarität. Dass diese Solidarität bei den Fachjurys auch in Lettland, Litauen oder Moldawien – durchaus Länder, die sich ganz unmittelbar bedroht fühlen müssen durch die russische Aggression – dokumentiert wurde, zeigt Courage.
Und dass nun Kalush Orchestra aus der Ukraine gewonnen haben, wirft für die Veranstalter der EBU eine andere, große Frage auf, deren Antwort dann freilich ganz unmittelbar mit Politik und Krieg zu tun haben wird: Wo passiert der Song Contest 2023? Denn üblicherweise findet der Song Contest im Land des Vorjahressiegers statt. Was aber wird von diesem Land, das heuer siegte, denn übrig sein in einem Jahr?