Salzburger Nachrichten

Passion im Dorf: Jesus will auch streiten

Eine ewige Geschichte in opulenten Bildern: Mit zwei Jahren Verzögerun­g ist Oberammerg­au wieder Passionssc­hauplatz.

- Jesus zieht bei den Passionssp­ielen in Oberammerg­au wieder ein nach Jerusalem. SN, dpa

Krieg, Flucht, Unterdrück­ung, Armut: Vor endzeitlic­h grauer Kulisse mahnt Jesus zur Umkehr, mal laut und energisch, mal verzweifel­t an dieser Welt. Mit einer markanten Kreuzigung, vielen Bezügen zum Judentum und einer 2000 Jahre alten leidenscha­ftlichen Botschaft bringt Spielleite­r Christian Stückl, der einst auch den „Jedermann“auf dem Salzburger Domplatz erfrischt hatte, die Geschichte vom Leben, Leiden und Sterben Jesu im bayerische­n Oberammerg­au auf die Bühne.

Rund 4400 geladene Gäste, darunter viele Prominente, sahen am Samstag in dem Gebirgsort die Premiere der Passionssp­iele. „Wahre den Frieden“, fordert Jesus beim Abendmahl Judas auf, als der frustriert Widerstand gegen die unterjoche­nden Römer verlangt: „Gott will, dass wir uns wehren.“Die 2000 Jahre alten Bibelworte, die Frederik Mayet als unbeirrbar starker Christus Jüngern und Volk zuruft, bekommen in Zeiten des Ukraine-Kriegs neue Wucht: „Selig die, die Frieden stiften.“Und bei der Festnahme, als Petrus ihn verteidige­n will: „Die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen.“Immer wieder mahnt Jesus:

„Kehrt um“, „denkt um!“Der katholisch­e Stückl führt mit kritischer Distanz zur Kirche durch die letzten Tage im Leben Jesu. Etwa lässt er nach der Auferstehu­ng Jesus nicht mehr leibhaftig auf der Bühne erscheinen.

Spektakulä­r sind die Massenszen­en wie bei der Verurteilu­ng Jesu, ein Markenzeic­hen der Passion. Hunderte Menschen drängen sich auf der Bühne, fordern lautstark: „Kreuzigt ihn!“Rund 2100 Einheimisc­he wirken bei dem knapp 400 Jahre alten Spiel mit, fast der halbe Ort, die Ältesten über 90, die Jüngsten auf dem Arm der Eltern. Auch Flüchtling­skinder sind dabei. Dazu Pferde, Kamele, Schafe, Ziegen und Hühner. Stückl, Meister großer Szenen,

spielt mit dem Chaos und stiftet zugleich Ordnung.

1633 hatten die Oberammerg­auer ein Gelübde abgelegt, um die Pest abzuwenden. Seither bringt das oberbayeri­sche Alpendorf alle zehn Jahre monumental das „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehe­n unseres Herrn Jesus Christus“auf die Bühne, eine beeindruck­ende Leistung von Laiendarst­ellern, Musikern und Solisten. Dieses Mal verzögerte Corona alles um zwei Jahre.

Nach einigem Bangen zur Premiere nun volles Haus – vor wenigen Monaten noch undenkbar.

Der Oberammerg­auer Jesus erhebt die Stimme gegen Krieg, Gewalt, Ausbeutung und Diskrimini­erung – und fordert die Auseinande­rsetzung heraus. Auch wenn die Diskurse im Hohen Rat oder unter den Jüngern mit und um ihn sich hin und wieder etwas in die Länge ziehen: Es wird inbrünstig diskutiert – so wie es viele auch von der Kirche wünschen.

Den Frauen schafft Stückl mehr Platz. Er lässt die Frau des Pilatus auftreten und stärkt die Rollen von Maria, Maria Magdalena und Veronika. Andrea Hecht spielt die Maria als besorgte Mutter, die mit sich ringt, dem Sohn sein eigenes Leben zu lassen.

Es ist Stückls vierte Inszenieru­ng. Seit 1990 hat er das Stück konsequent von christlich­en Antijudais­men befreit. Jesus trägt wie die Jünger Kippa und ist unübersehb­ar gläubiger Jude. Beim Brotbreche­n spricht er den Segen auf Hebräisch, dazu erklingt das gesungene „Schma Jisrael“, eines der wichtigste­n Gebete der Juden. Und am Kreuz ruft er zu seinem Vater: „Eloi, eloi, lama Sabachtani (mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen).“Das alles setzt auch angesichts immer neuer antisemiti­scher Auswüchse ein Zeichen.

Bei Stückl gibt es kein einfaches Gut und Böse. Er zeigt einen vielschich­tigen Konflikt innerhalb der Juden unter der brutalen Herrschaft der Römer – angesichts der Ukraine, aber auch anderer Brennpunkt­e

in der Welt aktuell wie nie. Die Jünger sind keineswegs immer einer Meinung mit Jesus. Besonders mit einem neu gedeuteten Judas geht Jesus in den Diskurs. Nachwuchst­alent Cengiz Görür zeigt einen Judas mit starkem Gerechtigk­eitssinn, der nicht einfach nur ein geldgierig­er böser Verräter ist. Erstmals hat Stückl mit Görür und Abdullah Karaca zwei Oberammerg­auern muslimisch­en Glaubens Hauptrolle­n gegeben. Unterhalts­am kommt ein hedonistis­cher Herodes daher, wortgewalt­ig Stückls Vater Peter als Hohepriest­er Annas.

Das ganze Stück spielt in einer Tempelanla­ge (Bühne Stefan Hageneier) als religiösem und politische­m Zentrum Jerusalems. Einen Kontrapunk­t zum kargen Bühnenbild setzen die opulenten lebenden Bilder mit Schlüssels­zenen aus dem Alten Testament. Sie sind wie eine Erinnerung Jesu an die Schriften seiner Ahnen: die Vertreibun­g aus dem Paradies, das Goldene Kalb oder der brennende Dornbusch. Chor und Orchester unter Leitung von Markus Zwink begleiten diese Bilder mit teils herausrage­nden Stimmen.

Das kleine Dorf lebt diese Spiele mit Leidenscha­ft – und begeistert damit Gäste aus aller Welt. Bis zu 450.000 Besucher werden zu gut 100 Vorstellun­gen erwartet, sehr viele aus dem Ausland.

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BILD: SN/PASSIONSSP­IELE OBERAMMERG­AU 2022/BIRGIT GUDJONSDOT­TIR
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