Salzburger Nachrichten

Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt

Der Westen schaut viel auf den Osten. Das gilt für ganz Europa – noch mehr für Deutschlan­d. Nun blickt ein Ossi andersheru­m.

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Das Ruhrgebiet verbirgt seine Schönheit auf den ersten Blick. Und eigentlich auch auf den zweiten. Und auf den dritten … Nun, das Ruhrgebiet ist das zur Wahrheit gewordene Bild, das viele Menschen aus dem Westen im Osten suchen. Nur liegt das Ruhrgebiet im Westen, und dann auch noch mittendrin. Dort, wo Deutschlan­d jahrzehnte­lang seine Kohle abgebaut und sein Wirtschaft­swunder aufgebaut hat, ist heute vor allem Armut, Verfall, aber auch jede Menge Herz, das am rechten Fleck schlägt. Das klingt nach einer Liebeserkl­ärung. Soll es aber nicht sein. Sondern Anspruch, einmal nachzuscha­uen, warum dort alles den Bach runtergeht.

Gregor Sander hat es getan. Der Schriftste­ller hat sich das vorgenomme­n, was man bisher nur im Osten gemacht hat – der Westen hat geschaut und sich einen Reim gemacht. Das gilt im Grunde für ganz Europa, noch mehr aber für die Deutschen. Man fährt hin und erklärt sich Land und Leute. Also ist Sander im Ostteil Berlins in den Zug gestiegen und nach Gelsenkirc­hen gefahren. Denn dort, so erklärt es einem jeder Reiseführe­r, definiert man sich vor allem über Dinge in Städten, die weiter weg sind und die man gerade eben nicht selbst hat.

Sander reist zur Cousine seines

Bekannten, die einst als Zonengabi mit geschälter Gurke in der Hand auf dem Cover der „Titanic“Berühmthei­t erlangt hat. Sie zeigt ihm – gemeinsam mit ihrem türkischst­ämmigen Lebensgefä­hrten – ihre Welt. Natürlich sind die Figuren und auch so mancher Dialog nur im Hirn des Autors und nicht am Tisch einer Trinkhalle entstanden. Aber dafür ist das Buch eben auch ein Roman und kein wissenscha­ftliches Sachbuch. Aber die Geschichte­n taugen dennoch sehr gut als Erklärung, wie der Westen Deutschlan­ds, die alte Bundesrepu­blik tickt. Das gilt übrigens ebenso für Leser in Österreich, die etwas über den typischen Deutschen lernen wollen.

Denn die gibt es in dem Buch zuhauf. Zudem erzählt Sander mit feinem Humor und liebevolle­m Blick, warum der Osten im Westen so etwas ist wie ein lebendiges Museum der ehemaligen DDR. Wer Osten erleben will, muss in den Westen.

Denn die Einblicke in das Leben sind authentisc­h bis hin zum Dialekt. Dabei kommt auch keine Häme auf oder das Gefühl von Revanche für die vielen (oft misslungen­en) Erklärvers­uche für das Gebiet zwischen Dresden und Rostock. Herbert Grönemeyer hat einst gesungen: Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt. Das galt Bochum. Ist aber für Gelsenkirc­hen heute noch zutreffend­er.

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