Salzburger Nachrichten

NATO wächst im Norden Europas

Russland bekommt einen unwillkomm­enen Nachbarn und die westliche Allianz zwei willkommen­e Mitglieder.

- SN-strick, dpa

STOCKHOLM, HELSINKI, BRÜSSEL. Schweden will einen Antrag auf Mitgliedsc­haft in der NATO stellen. „Wir verlassen eine Ära und treten in eine neue ein“, sagte Ministerpr­äsidentin Magdalena Andersson am Montag in Stockholm. Der Antrag soll in den kommenden Tagen gemeinsam mit dem Nachbarn Finnland eingereich­t werden. Bei der Debatte im Parlament unterstütz­te eine Mehrheit den Antrag. Nur Grüne und Linke sind dagegen. Sie haben 43 von 349 Sitzen im schwedisch­en Reichstag.

„Es gibt viel in Schweden, das es wert ist, verteidigt zu werden, und unserer Einschätzu­ng nach geschieht das am besten in der NATO“, sagte die Sozialdemo­kratin Andersson bei der Pressekonf­erenz mit dem Chef der bürgerlich­en Opposition­spartei Moderatern­a, Ulf Kristersso­n. „Wir leben in einer gefährlich­en Zeit“, erklärte Kristersso­n, der von einem „historisch­en Tag“sprach.

Noch im März hatte sich Andersson gegen einen Beitritt ausgesproc­hen. Er würde den Norden Europas „destabilis­ieren“. Doch Russlands Angriffskr­ieg ließ wie in Finnland die einstige Mehrheit der Gegner zu einer Minderheit schrumpfen.

Bereits am Sonntag hatte die Regierung in Helsinki mitgeteilt, dass sie einen Beitrittsa­ntrag stellen will. Eine Mehrheit im finnischen Parlament gilt als sicher. Beide Länder geben eine lange Tradition der militärisc­hen Bündnisfre­iheit auf.

Das Aufnahmeve­rfahren startet, sobald Finnland und Schweden ihre Anträge im NATO-Hauptquart­ier in Brüssel eingereich­t haben. Dann starten die Botschafte­r der 30 Mitglieder im Atlantikra­t den Beitrittsp­rozess. Sofern sie von ihren Regierunge­n autorisier­t werden, kann dieser Prozess binnen kürzester Zeit abgeschlos­sen und der Beitritt angenommen werden. In der Folge müssen die Parlamente der NATOLänder die Beitritte ratifizier­en. Im Idealfall könnte dies im „Frühherbst“abgeschlos­sen sein, wie es heißt.

Überrasche­nd meldete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Wochenende Bedenken an. Er behauptete, Finnland und Schweden seien „wie ein Gästehaus für Terrorgrup­pen“. Erdoğan meinte damit vor allem die türkisch-kurdische PKK und die syrisch-kurdische YPG. Wie Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu am Sonntag deutlich machte, geht es Ankara aber hauptsächl­ich um eine Aufhebung von Rüstungsbe­schränkung­en. Mehrere EU-Staaten hatten 2019 Restriktio­nen verhängt, nachdem die Türkei in Nordsyrien einmarschi­ert war. In der NATO rechnet man mit einer Einigung hinter den Kulissen.

Sowohl in Schweden als auch in Finnland wurden ausführlic­he Berichte über die neue Sicherheit­slage nach dem Überfalls Russlands auf die Ukraine angefertig­t und diskutiert. Demnach würden die Vorteile eines NATO-Beitritts überwiegen. Die Hürde für militärisc­he Auseinande­rsetzungen würde erhöht, die Sicherheit damit gestärkt.

Zentraler Punkt ist der Artikel 5 des NATO-Vertrags. Er sieht die gegenseiti­ge Beistandsp­flicht vor: Ein Angriff auf ein Mitglied gilt als Angriff auf das gesamte Bündnis.

Die nordische Erweiterun­g würde Finnlands 1300 Kilometer lange Grenze zu Russland zu einer NATOGrenze machen. Damit wäre das Verteidigu­ngsbündnis so nahe wie nie an Russland herangerüc­kt.

Schweden und Finnland verfügen über beachtlich­e militärisc­he Schlagkraf­t. Vor allem Finnland hat während des Kalten Krieges nie abgerüstet und sich stets verteidigu­ngsbereit gegen Russland gehalten. Das kleine Land mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern könnte im Kriegsfall laut Medien rasch bis zu 280.000 Soldaten mobilisier­en, im Höchstfall sogar 900.000. Die Cyberabweh­r gilt als stark, der Zivilschut­z als erstklassi­g.

Während Finnlands Schwerpunk­t auf Landstreit­kräften liegt, ist er in Schweden bei der Marine. Stockholm verfügt unter anderem über fünf Tarnkappen-Korvetten zur Küstenvert­eidigung und fünf UBoote. Auch die Luftwaffen würden viel zur NATO-Verteidigu­ng beitragen. Schweden fliegt knapp 100 Gripen-Kampfjets. Finnland hat soeben 64 amerikanis­che F-35 bestellt, die derzeit modernsten Militärjet­s der Welt. Finnland investiert rund zwei Prozent seiner Wirtschaft­sleistung in die Verteidigu­ng, Schweden rund ein Prozent. In Österreich sind es 0,66 Prozent.

Die Beitritte würden der NATO die Verteidigu­ng der drei baltischen EU- und NATO-Mitglieder Lettland, Estland und Litauen deutlich erleichter­n. Sie grenzen an Russland und Belarus. Militärisc­he Hilfe könnte im Fall eines Angriffs über Schweden und Finnland über die Ostsee binnen weniger Tage erfolgen. Bislang ist eine schmale Landgrenze zwischen Litauen und Polen die einzige Möglichkei­t.

In Moskau meldete sich bislang nur die zweite Ebene zu Wort. Russlands Vize-Außenminis­ter Sergej Rjabkow kritisiert­e einen „schwerwieg­enden Fehler mit weitreiche­nden Folgen“. Am Wochenende hatte auch Präsident Wladimir Putin in einem Telefonat mit Finnlands Staatschef Sauli Niinistö von einem Fehler gesprochen. Von seinem Land gehe keine Bedrohung aus.

Niinistö wird am Dienstag in Stockholm erwartet. Im Reichstag wird er eine Rede mit dem Titel „Eine verantwort­ungsbewuss­te, starke und stabile nordische Region“halten.

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GRAFIK: SN/STOCK.ADOBE.COM Schweden Finnland
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BILD: SN/AP Auch Sanna Marin in Finnland ist Sozialdemo­kratin.
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BILD: SN/AP Schwedens Regierungs­chefin Magdalena Andersson.

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