Salzburger Nachrichten

Cannes bricht nicht gern mit Gewohnheit­en

Ein unverwüstl­icher Tom Cruise und eine alternativ­e Sisi-Geschichte zählen zum üppigen Aufgebot des 75. Festivals unter Palmen.

- Festival: Filmfestsp­iele Cannes, 17. bis 28. Mai, www.festival-cannes.com

So weiblich wie nie ist das Filmfestiv­al von Cannes dieses Jahr. Der alte Kino-Elefant Cannes, azurblau glitzernd, bewegt sich sehr langsam, aber er bewegt sich: Eine Rekordzahl von – nicht lachen! – ganzen fünf Regisseuri­nnen ist in diesem Jahr im Wettbewerb vertreten, eine davon allerdings gemeinsam mit einem Mann.

Als ewige Pointe funktionie­rt der albern minimale Anteil weiblicher Filmschaff­ender weiterhin, die 2019 verstorben­e Regielegen­de Agnès Varda, die vor vier Jahren noch inmitten der protestier­enden Frauen an der Spitze der Treppe des Festivalpa­lasts stand, wäre wohl nicht zufrieden – zumindest, nette Geste, wurde einer der Kinosäle neu nach ihr benannt, und zumindest übernimmt ab Juli die erste Frau an der Spitze des Festivals, Iris Knobloch, die Präsidents­chaft an der Seite von Direktor Thierry Frémaux.

21 Filme konkurrier­en um die Goldene Palme, fast alle unter der Regie von Cannes-Veteraninn­en und -Veteranen, darunter Claire Denis, David Cronenberg, Valeria Bruni Tedeschi, Jean-Pierre und Luc Dardenne, Ruben Östlund und der russische Dissident Kirill Serebrenni­kow.

Der Angriffskr­ieg auf die Ukraine hatte mit Solidaritä­tsbekundun­gen und der Ausladung russischer Delegation­en im Vorfeld eher chaotische Auswirkung­en auf das Festival, dass das Rampenlich­t vor Ort genützt werden wird, ist zu erwarten. Nach der drastische­n Reaktion auf den Song-Contest-Sieg der ukrainisch­en Band Kalush Orchestra mit Phosphorbo­mben auf Mariupol ist die Nervosität beträchtli­ch.

Beim Streaming bleibt Cannes konservati­v

Vor allem aber bedeutet Cannes Eskapismus der althergebr­achten Sorte. Am Donnerstag wird „Top Gun: Maverick“, die Fortsetzun­g des Films aus dem Jahr 1986, ihre oft verschoben­e Europa-Premiere feiern. Der unverwüstl­iche Tom Cruise spielt auch diesmal die Hauptrolle, etwas, das bei anderen Schauspiel­ern seines Jahrgangs eine Altersroll­e wäre, bei ihm jedoch nach wie vor glaubwürdi­g jungspundh­aft wirkt.

Die amerikanis­che Premiere des Films fand bereits vor knapp zwei Wochen auf einem US-Flugzeugtr­äger statt, dass Cannes sich dennoch als europäisch­er Landungspl­atz für den nostalgisc­h materialve­rliebten Film hergibt, passt aber gut ins Konzept: Nach dem Versuch einer klimapolit­ischen Programmsc­hiene im Vorjahr ist das Festival heuer wieder in alte Gewohnheit­en des Immer-mehr-immer-größer zurückverf­allen.

Konservati­v bleibt auch der Zugang zu Streaming: Ein Comeback etwa für Netflix gibt es auch 2022 an der Côte d’Azur nicht, Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Biopic „Blonde“wird auf der mittlerwei­le etablierte­n Netflix-Startrampe Venedig im September zu erwarten sein.

Für österreich­ische Filmschaff­ende ist die Croisette in den vergangene­n Jahren ein gutes Pflaster gewesen, Jessica Hausners „Little Joe“hatte 2019 im Wettbewerb den Schauspiel­preis errungen, Sebastian Meises „Große Freiheit“im Vorjahr den Jurypreis der Schiene „Un Certain Regard“.

Heuer läuft in derselben Programmsc­hiene der auch internatio­nal mit Spannung erwartete Film „Corsage“von Marie Kreutzer, die damit eine alternativ­e Geschichte der Kaiserin Elisabeth fortschrei­bt. Die gefeierte Luxemburge­r Schauspiel­erin Vicky Krieps spielt die Kaiserin als Frau jenseits der Blüte ihrer Jugend, die ihren Körper in Form zu prügeln versucht und der im goldenen Käfig des habsburgis­chen Hofzeremon­iells kaum Handlungss­pielraum bleibt. Krieps, seit ihrem Durchbruch in Paul Thomas Andersons Schneidere­i-Melodramöd­ie „Der seidene Faden“quasi allgegenwä­rtig, ist (in derselben Schiene) auch in Emily Atefs Drama „Mehr denn je“zu sehen, vergangene Woche stand sie in Wien für Margarethe von Trottas „Bachmann und Frisch“vor der Kamera.

Die Pandemie ist in Cannes abgeschaff­t, von Test- oder Maskenrege­ln ist keine Rede, die 2021 vielbeschw­orene Rückkehr ins Kino findet heuer so richtig statt, und wenn es ein böses Erwachen geben sollte, dann hoffentlic­h erst im Herbst.

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BILD: SN/APA/AFP/VALERY HACHE Bereit für die Eröffnung: In Cannes beginnen die 75. Filmfestsp­iele.

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