Cannes bricht nicht gern mit Gewohnheiten
Ein unverwüstlicher Tom Cruise und eine alternative Sisi-Geschichte zählen zum üppigen Aufgebot des 75. Festivals unter Palmen.
So weiblich wie nie ist das Filmfestival von Cannes dieses Jahr. Der alte Kino-Elefant Cannes, azurblau glitzernd, bewegt sich sehr langsam, aber er bewegt sich: Eine Rekordzahl von – nicht lachen! – ganzen fünf Regisseurinnen ist in diesem Jahr im Wettbewerb vertreten, eine davon allerdings gemeinsam mit einem Mann.
Als ewige Pointe funktioniert der albern minimale Anteil weiblicher Filmschaffender weiterhin, die 2019 verstorbene Regielegende Agnès Varda, die vor vier Jahren noch inmitten der protestierenden Frauen an der Spitze der Treppe des Festivalpalasts stand, wäre wohl nicht zufrieden – zumindest, nette Geste, wurde einer der Kinosäle neu nach ihr benannt, und zumindest übernimmt ab Juli die erste Frau an der Spitze des Festivals, Iris Knobloch, die Präsidentschaft an der Seite von Direktor Thierry Frémaux.
21 Filme konkurrieren um die Goldene Palme, fast alle unter der Regie von Cannes-Veteraninnen und -Veteranen, darunter Claire Denis, David Cronenberg, Valeria Bruni Tedeschi, Jean-Pierre und Luc Dardenne, Ruben Östlund und der russische Dissident Kirill Serebrennikow.
Der Angriffskrieg auf die Ukraine hatte mit Solidaritätsbekundungen und der Ausladung russischer Delegationen im Vorfeld eher chaotische Auswirkungen auf das Festival, dass das Rampenlicht vor Ort genützt werden wird, ist zu erwarten. Nach der drastischen Reaktion auf den Song-Contest-Sieg der ukrainischen Band Kalush Orchestra mit Phosphorbomben auf Mariupol ist die Nervosität beträchtlich.
Beim Streaming bleibt Cannes konservativ
Vor allem aber bedeutet Cannes Eskapismus der althergebrachten Sorte. Am Donnerstag wird „Top Gun: Maverick“, die Fortsetzung des Films aus dem Jahr 1986, ihre oft verschobene Europa-Premiere feiern. Der unverwüstliche Tom Cruise spielt auch diesmal die Hauptrolle, etwas, das bei anderen Schauspielern seines Jahrgangs eine Altersrolle wäre, bei ihm jedoch nach wie vor glaubwürdig jungspundhaft wirkt.
Die amerikanische Premiere des Films fand bereits vor knapp zwei Wochen auf einem US-Flugzeugträger statt, dass Cannes sich dennoch als europäischer Landungsplatz für den nostalgisch materialverliebten Film hergibt, passt aber gut ins Konzept: Nach dem Versuch einer klimapolitischen Programmschiene im Vorjahr ist das Festival heuer wieder in alte Gewohnheiten des Immer-mehr-immer-größer zurückverfallen.
Konservativ bleibt auch der Zugang zu Streaming: Ein Comeback etwa für Netflix gibt es auch 2022 an der Côte d’Azur nicht, Andrew Dominiks Marilyn-Monroe-Biopic „Blonde“wird auf der mittlerweile etablierten Netflix-Startrampe Venedig im September zu erwarten sein.
Für österreichische Filmschaffende ist die Croisette in den vergangenen Jahren ein gutes Pflaster gewesen, Jessica Hausners „Little Joe“hatte 2019 im Wettbewerb den Schauspielpreis errungen, Sebastian Meises „Große Freiheit“im Vorjahr den Jurypreis der Schiene „Un Certain Regard“.
Heuer läuft in derselben Programmschiene der auch international mit Spannung erwartete Film „Corsage“von Marie Kreutzer, die damit eine alternative Geschichte der Kaiserin Elisabeth fortschreibt. Die gefeierte Luxemburger Schauspielerin Vicky Krieps spielt die Kaiserin als Frau jenseits der Blüte ihrer Jugend, die ihren Körper in Form zu prügeln versucht und der im goldenen Käfig des habsburgischen Hofzeremoniells kaum Handlungsspielraum bleibt. Krieps, seit ihrem Durchbruch in Paul Thomas Andersons Schneiderei-Melodramödie „Der seidene Faden“quasi allgegenwärtig, ist (in derselben Schiene) auch in Emily Atefs Drama „Mehr denn je“zu sehen, vergangene Woche stand sie in Wien für Margarethe von Trottas „Bachmann und Frisch“vor der Kamera.
Die Pandemie ist in Cannes abgeschafft, von Test- oder Maskenregeln ist keine Rede, die 2021 vielbeschworene Rückkehr ins Kino findet heuer so richtig statt, und wenn es ein böses Erwachen geben sollte, dann hoffentlich erst im Herbst.