Protest in Blau-Gelb: „Jeder kann Pussy Riot sein“
Nach spektakulärer Flucht wieder auf der Bühne: Pussy Riot traten in St. Johann in Tirol auf.
Das Klanggewitter verheißt nichts Gutes: „Die haben beschlossen, euch einzubuchten. Lauf weg!“, warnt eine Stimme, während sich Beats und Bässe immer bedrohlicher verdichten: „Lauf, Mascha!“
Es ist der 22. Februar 2012, der Tag, nach dem Pussy Riot mitten in der Christ-Erlöser-Kirche in Moskau ihr „Punk-Gebet“aufgeführt und damit lautstark gegen Wladimir Putin protestiert haben. Jetzt steht die Polizei vor den Wohnungstüren der russischen Kunst-Aktivistinnen.
Auf der Bühne ist nicht nur diese Szene mit schmerzlich eindringlichen Elektrosounds und Saxofontönen unterlegt. In der Performance „Riot Days“holt Marija „Mascha“Aljochina, eine von drei Pussy-Riot-Protagonistinnen, die vor zehn Jahren verurteilt wurden, zur Gegenanklage aus: Begleitet von drei Mitgliedern des Kollektivs skandiert sie Textstellen aus ihrem gleichnamigen Buch „Riot Days“über die Aktion, die 2012 weltweit Aufsehen erregte, den umstrittenen Prozess wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“, ihre Haftstrafe und ihren Hungerstreik.
„Lauf, Mascha!“: Beim Auftritt von Pussy Riot am Sonntagabend in der Alten Gerberei in St. Johann in Tirol hat dieser Warnruf aber auch einen aktuellen Klang. Die lang geplante „Riot Days“-Tour mit 19 Europaterminen kann nur stattfinden, weil Marija Aljochina vergangene Woche eine spektakuläre Flucht aus ihrem Hausarrest (wegen einer jüngeren Verurteilung) gelungen ist. Als Essenslieferantin verkleidet hat sie ihre Wohnung verlassen, beim dritten Versuch gelang der Grenzübertritt in Belarus.
Auf der Bühne in St. Johann (der Auftritt am Sonntagabend wurde auch per Livestream übertragen) haben Aljochina und ihre Kollegin Olga Borisova wieder ihre Sturmhauben auf, die seit dem „Punk-Gebet“das Markenzeichen von Pussy Riot sind. Deren Farben Gelb und Blau stehen – einen Tag nach dem Sieg der Ukraine beim Eurovision Song Contest – auch für die aktuelle Mission, in der das Kollektiv (mit Diana Burkot, Schlagzeug und Elektronik, sowie Anton Ponomarev, Saxofon) unterwegs ist. Sie wolle ihre Stimme möglichst laut für die Ukraine einsetzen, sagt Aljochina in Interviews. Einnahmen aus der Tour sollen als Spenden an ein Kinderspital in Kiew gehen, auch das Publikum bei der Veranstaltung der St. Johanner Initiative Muku wird zum Spenden aufgefordert.
„Jeder kann Pussy Riot sein“, heißt es auch in der Performance an einer Stelle. Mit den Vorbereitungen für das „Punk-Gebet“, das Pussy Riot 2012 schließlich global in die Schlagzeilen brachte, beginnt die Erzählung, die Aljochina immer wieder in atemlosem Stakkato vorträgt. „Aufstand in Russland, Putin macht sich in die Hosen“, skandiert die Band, „Aufstand in Russland: Riot! Riot!“.
Was vor zehn Jahren, knapp vor dem Beginn von Putins dritter Amtszeit als Präsident Russlands, als Protest gegen eine immer repressivere Allianz von Staat und Kirche begonnen hatte, klingt angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine immer wieder doppelt aktuell: „Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“, heißt es gegen Ende der etwa einstündigen Performance, die in der ausverkauften Alten Gerberei in St. Johann schließlich mit einem kurzen Ukraine-Statement als Zugabe endet.