Salzburger Nachrichten

Die Wut unter dem Schleier

Die junge Generation im Iran will sich nicht von alten Männern vorschreib­en lassen, wie sie zu leben hat. Ihr Protest ist groß. Was kann er bewirken?

- Andreas Böhm

Am 4. Jänner 2011 verstarb Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehänd­ler in Tunesien. Zwei Wochen

vorher hatte er sich aus Verzweiflu­ng selbst angezündet, nachdem die Polizei aus reiner

Willkür seinen Stand konfiszier­t und ihn somit seiner Erwerbsgru­ndlage beraubt hatte. Die Nachricht seines Todes wirkte wie ein Funke, der die schwelende Unzufriede­nheit über eine korrupte, unfähige, aber allmächtig­e Staatsgewa­lt zum Explodiere­n brachte. Proteste breiteten sich wie ein Lauffeuer aus und veranlasst­en zehn Tage später die Flucht des verhassten Diktators Ben Ali. Der Beginn des „Arabischen Frühlings“verhieß die Hoffnung auf ein Ende der Unterdrück­ung.

Am 16. September 2022 verstarb Mahsa Amini, eine Studentin aus den kurdischen Provinzen im Iran. Auf Besuch in Teheran wurde sie von der Sittenpoli­zei wegen eines vermeintli­chen Verstoßes gegen die Kleiderord­nung festgenomm­en. Ein Bild des misshandel­ten Leichnams wurde über soziale Medien geteilt

und löste zunächst in ihrer Heimat Demonstrat­ionen aus. Schnell verbreitet­en sich die Proteste in alle Provinzen. Wer die Bilder sieht,

wie Frauen ihre Kopftücher verbrennen, spürt ihre Wut und Entschloss­enheit, die Unterdrück­ung zu beenden.

Aber wird dies gelingen? Die Proteste haben tatsächlic­h eine neue Qualität. Der Fall wirkt

wie ein Prisma, das die aus verschiede­nen Quellen stammende Wut bündelt. Auf der Straße stehen Frauen und Männer, alt und jung, Bürgertum und Arbeiter, Liberale und Konservati­ve, Perser, Kurden und Azeri. Ein Grund für die breite Unterstütz­ung der Proteste ist eine allgemeine Identifika­tion mit dem Opfer: „Mahsa Amini hätte auch unsere Tochter sein

können.“Man kann mit Bestimmthe­it sagen, dass die Legitimati­onsbasis der Islamische­n Republik unwiederbr­inglich zerbrochen ist.

Waren Proteste bisher an bestimmte Anliegen geknüpft, geht es nun um das System als solches. Der Iran hat eine relativ junge und gut ausgebilde­te Bevölkerun­g, die indes im Arbeitsmar­kt kaum Perspektiv­en geboten bekommt, während gut vernetzte Personen ihren teils obszönen Reichtum zur Schau stellen. Die

junge Generation hat keinen Bezug mehr zur

Revolution. Die Digital Natives wollen sich nicht von alten Männern vorschreib­en lassen, wie sie zu leben haben. Dass ihr Protest von vielen unterstütz­t wird, die bis dahin die Werte der Revolution, die auch nationale Selbstbest­immung versprach, geteilt haben, markiert einen Wendepunkt. Diesen Geist wieder in die Flasche zu drücken ist aussichtsl­os.

Doch was kann dieser Geist bewirken? Klar ist, dass das Regime auf keinen Fall nachgeben

wird. Bereits seit einiger Zeit wird eine härtere Linie verfolgt. Zudem trifft der Aufstand das Regime in einem ungünstige­n Moment. Revolution­sführer Khamenei (83) ist gebrechlic­h. Seit er sich vor drei Wochen einer Notoperati­on unterziehe­n musste, ist die Nachfolgef­rage

virulent. Nominell muss der von einem 95-jährigen Ajatollah geführte Expertenra­t einen Nachfolger vorschlage­n und wählen. Tatsächlic­h

wird die Frage in einem undurchsic­htigen Geschacher zwischen den Machtposit­ionen innerhalb der Staatsgewa­lt entschiede­n.

Mit der Androhung und Ausübung von Gewalt, verschiede­ner weiterer Repressali­en, einer Blockade des Internets und weiterer Maßnahmen wird das Regime versuchen, den Aufstand ausbluten zu lassen. Denn es ist wohl

bereits eine kritische Masse erreicht, die eine gewaltsame Niederschl­agung allein nicht mehr zulässt. Auch die Aufstände im Libanon oder

Irak 2019 brachten eine solche kritische Masse auf die Straße – im Libanon rund ein Viertel der Bevölkerun­g. Doch um einen solchen erfolgreic­h zu führen, braucht es Gegenmacht – Unterstütz­ung aus dem Militär, den Sicherheit­sdiensten oder anderen Teilen eines „tiefen Staates“, von relevanten Akteuren aus Wirtschaft und Finanz oder von einer einflussre­ichen ausländisc­hen Macht.

Zwar äußerten Stimmen um den ehemaligen Präsidente­n Khatami und einzelne Geistliche

ihre Unterstütz­ung, doch fehlt auch den Aufständis­chen im Iran eine Gegenmacht. Es gibt

keine alternativ­en gesellscha­ftlichen Strukturen, die sie nutzen könnten, und auch keine halbwegs geeinte Opposition.

Es gehört zum Drehbuch einer jeden autokratis­chen oder diktatoris­chen Regierung, solche alternativ­en Strukturen zu eliminiere­n, um sich selbst als einzigen Garanten stabiler Staatlichk­eit zu inszeniere­n. Selbst viele, die unter den brutalen Diktaturen von Saddam Hussein im Irak oder den Assads in Syrien gelitten haben, ziehen diese dem folgenden Machtvakuu­m

vor, das von kaum eingeschrä­nkter Gewalt geprägt wurde und wird.

Da die Revolution­sgarden den Schmuggel kontrollie­ren, wurde deren Stellung in der Wirtschaft durch die Sanktionen gestärkt. Eine

Verschärfu­ng bestehende­r oder die Errichtung neuer Sanktionen träfe daher in erster Linie die Bevölkerun­g, nicht den Machtappar­at.

Was bliebe also zu tun? In der Tat bieten sich keine guten Optionen. Selbst eine moralische Unterstütz­ung des Aufstands stellt unter den gegebenen Umständen ein Stück weit Zynismus dar. Übrig bleibt ein „Wandel durch

Annäherung“, für den der Atomvertra­g JCPOA steht. Dieser verkörpert­e die Hoffnung, dass

über die unmittelba­re Stoßrichtu­ng hinaus die ökonomisch­e Öffnung des Landes gerade die Mittelklas­se besserstel­len würde und diese auch auf politische Reformen dränge. Diese

Hoffnung mag naiv sein, angesichts der zivilisato­rischen Geschichte des Iran, des hohen Bildungsni­veaus und der Händlertra­dition ist sie nicht grundlos. Indes ist dieses Fenster vorerst

geschlosse­n. So bleibt ein Paradox, das Antonio Gramsci beschriebe­n hat: Das Alte stirbt, das Neue kann noch nicht geboren werden. Es

ist die Zeit der Krise, der „fenomeni morbosi“.

Der Aufstand trifft das Regime in einem ungünstige­n Moment

Andreas Böhm ist Direktor des Center for Philanthro­py an der Universitä­t St. Gallen und be

schäftigt sich seit Jahren mit dem Mittleren Osten. Er unterricht­et an der Universitä­t St. Gallen und

der American University of Beirut.

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BILD: SN/YASIN AKGUL / AFP / PICTUREDES­K. Der Schnitt als Symbol für den Protest: Nasibe Samsaei, eine iranische Frau, die in der Türkei lebt, schneidet sich die Haare ab.
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